Die Familie Willy Brandt (German Edition)
dokumentieren. Vor diesem historischen Hintergrund wächst Brandt Charisma zu, das durch seinen politischen Leidensweg noch genährt wird, denn zunächst sammelt er Niederlagen. Bei den Bundestagswahlen 1961 und 1965 kann er als Kandidat der SPD zwar beachtliche Stimmenzuwächse für seine Partei erringen, aber er verfehlt die Macht, und auch die Partei hält ihn auf Distanz. Der große unumstrittene Führer ist er noch nicht. Brandt findet erst im Augenblick tiefster Bitterkeit und Depression zu charismatischer Größe. Als er 1965 beschließt, nichts mehr werden zu wollen, und das auch alle wissen lässt, als er die Macht loslässt und sich innerlich schon auf »die Reise wegwohin« macht, findet er zu sich selbst. Und dieses Selbstbild orientiert sich nicht mehr an einem jugendlichen Helden wie John F. Kennedy, den er kopierte, sondern es gewinnt Kraft, weil es die Ohnmacht und das erlittene Leid mit einschließt. Erst jetzt ist er für die Menschen rundherum Mensch, und die Stigmata, die er trägt, fangen an Früchte abzuwerfen. Ihm wächst jetzt vieles zu, weil ihm so vieles abgesprochen wurde, und so basteln Adenauer und Franz Josef Strauß mit an diesem Helden, der 1969 alles Phlegma abstreift und nach der Kanzlerschaft greift.
Brandts Lebensgeschichte wird zum Charisma-Kapital, weil die persönlichen Angriffe gegen den »Landesverräter«, den »vaterlandslosen Gesellen« und das »uneheliche Kind« diejenigen mobilisiert, die ihm beistehen wollen, die es nicht hinnehmen, dass Brandts Lebensweg benutzt wird, um ihn zu diskreditieren. Während Brandts Gegner ihren Hass auf ihn projizierten, schrieben seine Unterstützer ihm ihre Hoffnungen zu und gut. Dass Willy Brandt auch und gerade daraus Energien bezog, die gegen ihn gerichteten Angriffe hinzunehmen, eine Art verschwiegenen, aber doch beredsamen Narbenstolz zu entwickeln, hat sein Antipode Rainer Barzel in der Rückschau benannt. Er schreibt in seinen Erinnerungen: »Er stieß zu; nutzte dazu seine emotionalen Möglichkeiten, auch seinen Lebenslauf. Einige lächelten, weil sie nicht begriffen, welchen Horizont und welche Sehnsüchte nach Immateriellem Brandt aufriss mit seinem Satz ›Der Himmel über der Ruhr muss wieder blau werden!‹ Natürlich wusste er, dass die Kumpels an der Ruhr zuerst andere Sorgen hatten; auch, was alles dagegen stand, dieses Ziel zu erreichen. Aber er spürte, mit diesem Ausruf einen Aufruf zu wagen und so ein politisches Feld zu erobern und zu besetzen, das die Union hatte brachliegen lassen. Ähnlich verhielt es sich, als er ›Compassion‹ (Mitleid) in die politische Diskussion einbrachte. Die Union aber hatte begonnen, ihr ›C‹ zu verstecken.«
Im Laufe seiner Karriere wird Willy Brandt der Mahnmal-Mann der deutschen Politik, dem sich die deutsche Geschichte wie ein Wundmal auf den politischen Leib zu schreiben schien. Als er 1972 von den Mitbürgern »compassion« erbat, also Mitleid oder Mitgefühl, schien dieser Appell insgeheim auch ihm selbst zu gelten, denn sein Charisma war eines jener vorgezeigten Ohnmacht, die um Macht bat bei jenen, die doch ohne Macht dazustehen schienen. Vielleicht war das seine ganz besondere Charisma-Qualität, den Ohnmächtigen die Macht einzuräumen, die eigene Ohnmacht zur Macht werden zu lassen. Wenn die Macht ein Vermögen ist, erst im Anderen zu sich selbst zu kommen, dann hat Brandt das begriffen: Er erbat sich Macht, er erbat sich das Delegat der Masse, seine Ohnmacht einzutauschen gegen ihre Macht.
Die Sprecher der »Tagesschau« exekutieren kühl, was die Weltgeschichte ihnen vorschreibt. Sie dürfen das, was sie vermelden, nicht kommentieren, der Zuschauer darf nicht erraten, was im Nachrichtensprecher vor sich geht. Wilhelm Wieben, der von 1974 bis 1998 in der Tagesschau die Nachrichten spricht, schreibt Willy Brandt am 15. Mai 1974: »Als Tagesschau-Sprecher sind wir gehalten, eine neutrale Mimik zu zeigen – den Mann ohne Meinung. Gestatten Sie mir bitte, Ihnen zu danken für Ihr eingelöstes Versprechen, mehr Demokratie zu wagen, für Ihr großes politisches Werk zu danken [ … ] für jeden Tag ihrer Kanzlerschaft, die für viele – gleich mir – ein beglückendes Erlebnis war, denn wann werden wir wieder so vertrauensvoll den ersten Politiker unseres Landes zugleich groß und liebenswert nennen.«
Brandt war ein Charismatiker, weil er es schaffte, den Alltag außer Kraft zu setzen. Die Menschen wandten sich ihm über den Tag hinaus zu, weil er über den Tag
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