Die Familie Willy Brandt (German Edition)
hinaus zielte. Seine charismatische Kraft entfaltete sich vor dem Hintergrund der deutsch-deutschen Teilung, die er zu überwinden trachtete. Er war ein großer Erzähler, der den Nerv der Zeit traf, weil er Botschaften besaß, die auf kollektive Bedürfnisse zielten: Die Aussöhnung mit dem Osten und das »Mehr Demokratie«. Um aber in einer postheroischen Gesellschaft zum heldenhaften Charismatiker zu werden, braucht es mehr als eine Botschaft und ein Talent. Brandt brauchte eine charismatische Situation, einen dramatischen Ort, an dem sich seine Persönlichkeit entfaltet. Brandt, der Mann mit dem Riss in der Identität, hat sich zielsicher Berlin ausgesucht, die zerrissene Stadt, die Καιρός/Kairos-Maschine, die historische Eingreif- und Entscheidungsaugenblicke und somit heroische Augenblicke am laufenden Band produzierte. Hier korrespondierte sein Weg mit der »Insel im roten Meer«. Brandt fand Feinde, Gegner, Konfliktpartner, die letzten Endes sein Geschäft betrieben, von Adenauer bis zum »Kettenhund« Walter Ulbricht. Brandt brachte soziale Energien zur Sprache, verkörperte sie, sog sie in sich auf, sie machten aus ihm eine ikonische Figur auf der Bühne der Weltgeschichte. Brandt, der Bürgermeister der Frontstadt, wurde zu einer legendären Figur, mit eigenem Mythos, von Zustimmung und Ablehnung gleichermaßen dynamisiert. Sein Charisma wuchs in Etappen, wandelte und weitete sich. Aus dem lokalen Helden, der die aufschäumenden Emotionen beschwichtigte, wurde ein Weltheld, der finanziell unterstützt von Erzgegner Adenauer als Handelsreisender in Sachen Freiheit und Demokratie um die Welt tourte, Berlin-Pathos im Gepäck. So wird er 1959 in New York mit einer Konfettiparade geehrt, Bilder, die im Wahlkampf 1961 zeigen sollen, welchen Rang Brandt im Ausland einnimmt. Im Jahr 1972, dem Gipfelpunkt seiner Anziehungskraft, wird er zum nationalen Leidens- und Hoffnungsmann, der 1974 stürzt, weil sein Charisma den Mühen der Ebene, den institutionellen und innerparteilichen Mühlen nicht mehr gewachsen ist. Im Sturz glimmt das Charisma noch einmal auf, viele Menschen vergießen Tränen, ein Tag, der sich beklommen anfühlt. Und schließlich kehrt der Charismatiker noch einmal zurück auf die große Weltstadtbühne, als 1989 die Mauer fällt und Willy Brandt ergriffen ausspricht, was fast alle wünschen: »Jetzt wächst wieder zusammen, was zusammengehört.«
Ist das Gegenteil von Charisma das Image? Zwischen 1957 und 1966 ist bei Brandt beides im Spiel. Das geschneiderte, konfektionierte, das von seinen Beratern ersonnene Image und sein Charisma, das sich der präzisen Planung entzog, weil es auch mit seinen psychischen Dispositionen zu tun hatte. Brandt wurde das Image eines modernen Politikers übergestreift, aber stets schimmerte doch die alte Haut durch, stets wehrte sich der Mensch gegen die totale Vereinnahmung durch den Politiker Brandt. Brandts Charisma konnte erst in dem Augenblick zur vollen Entfaltung finden, als das synthetische Image nicht länger als dominierendes Merkmal seiner Persönlichkeit wahrgenommen wurde. Als Barzel Brandt ablösen wollte, war der gute Mensch in Not, spielte sich das ganze Drama seiner politischen, aber auch seiner menschlichen Existenz vor aller Augen ab und mobilisierte die Unterstützermassen: Brandt retten, Deutschland retten! Brandt war ein Wärmepol der deutschen Politik, als diese kalt zu werden schien, er war der Garant der Menschlichkeit, als viele argwöhnten, dass nur noch Masken regierten. Brandts Charisma war bereits in den siebziger Jahren ein Antidot gegen jenes Schlagwort der »Politikverdrossenheit«, das erst Ende der achtziger Jahre unter Helmut Kohl in den politischen Diskurs und das kollektive Empfinden Einzug hielt. Ein Ausflug in die Jetzt-Zeit mag diesen anhaltenden politischen Entfremdungsprozess und Brandts besondere Gegengiftgabe belegen. In der Polit-Sendung »Bei Brender« auf dem privaten Nachrichtensender n-tv kommt es am 4. Mai 2012 zu folgendem Wortwechsel zwischen der Journalistin Anna Sauerbrey (»Der Tagesspiegel«) und Johannes Ponader, der kurz zuvor zum politischen Geschäftsführer der Piraten-Partei gewählt worden war.
Anna Sauerbrey: »Verstehen Sie sich denn als Politiker?«
Johannes Ponader: »Ich verstehe mich als politischer Mensch. Ich bin persönlich noch viel zu frisch in diesem Bereich, um zu sagen, was ein Politiker ist für mich vom Begriff her. Das ist so eine Schublade. Also ich bin Mensch und ich bin
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