Die Familie Willy Brandt (German Edition)
politisch, deshalb kann ich sagen, ich bin ein politischer Mensch. Ein Politiker, das klingt so, als gäb’s da noch was neben dran, was ich dann nicht mehr bin. Ich möchte nicht mehr aufhören, Mensch zu sein, weil ich Politiker bin.«
Anna Sauerbrey: »Warum ist der Politiker bei den Piraten so ein negativ besetzter Begriff? Kaum einer von ihnen möchte gerne sagen: ›Ich bin Berufspolitiker und ich stehe dazu, das ist das, was ich gerne machen möchte‹.«
Johannes Ponader: »Ich glaube, weil wir bei der Politik manchmal die Menschlichkeit vermissen. (…) Es ist für uns schon eine große Herausforderung, das merke auch ich jetzt in den ersten Tagen, authentisch zu bleiben und trotzdem mit diesem großen Ansturm und mit der Verantwortung umzugehen, die da auf uns zuläuft. Es ist immer leichter, sich abzukapseln und eine Maske aufzusetzen, als weiterhin offen und transparent mit allen umzugehen.«
Anna Sauerbrey: »Leisten Sie damit nicht der Politikverdrossenheit Vorschub?«
Johannes Ponader: »Wenn ich ein Mensch bleibe?«
Ohne dass Brandt es systematisch betrieb und plante, regierte das Bild des Fehlbaren und somit des Menschlichen sein Bild als Politiker. Er wirkte authentisch. Noch bevor das Image seinen Siegeszug bis in die letzten Schlupfwinkel des Alltag antrat und jeder anfing, an seinem Dienstleistungs- und Selbstverkaufskleid zu werkeln, hatte Brandt ein Image, das sich nicht als solches anfühlte. Brandts Existenz zerfiel nicht in Amt, öffentliche Figur, Privatmann und Politiker, er wurde vielmehr als echt und wirklich wahrgenommen und im Gegensatz zu anderen, die man mit parteipolitischem Schaum vor dem Mund sah, im Gegensatz zu anderen, die in mehrere kalkulierte und künstliche Existenzen zu zerfallen schienen, wirkte er – gerade wegen seiner Widersprüche – wie ein Mensch aus einem seelenvollen Guss. Brandt war kein Großenrechenmeister des strategischen Selbst, er blieb ein Ich, ein anfechtbarer und daher wiedererkennbarer Mensch. Betrachtet man alte Dokumentaraufnahmen, Interviews, Treffen mit Parteifreunden oder Wahlkampfreden, spürt man, welche ungeheure Anstrengung es ihn gekostet haben muss, überhaupt eine balancierte politische Existenz darzustellen.
Der filigrane und wohlüberlegte Wahlkampf von 1972 verzichtete nicht darauf, ein Image zu modellieren, aber das Wahlkampfteam räumte dem charismatischen Brandt den Vorrang ein und drängte ihm keine künstliche Rolle auf. Man präparierte Brandts Kernbotschaften heraus, man koordinierte seine Hilfstruppen, man verließ sich aber in erster Linie auf Brandts synergetisches Charisma, das verschiedene Energien anzog und aneinander steigerte. Dieses sich Verlassen und Einlassen auf Brandts Präsenz, seine Fähigkeit, andere für sich zu gewinnen und ihre Energien zu mobilisieren, kommt in der Auswahl des Porträtfotos zum Ausdruck, mit dem der gesamte Wahlkampf bestritten wurde und das eine nahezu allmächtige Allgegenwart entfaltete im Herbst 1972. Brandt, braungebrannt, lächelt versonnen in die Kamera. Dieses Foto ist eher ein Zufallsfund, nicht das Ergebnis einer stundenlangen Studiositzung. Brandt war gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt und daher sonnenverwöhnt. Harry Walter, der Chef der Werbeagentur ARE, der die Kampagne entwarf und gestaltete, begleitete ihn auf einer Rundreise durch bayerische Kur- und Badeorte. Auf jeder Station hatte Brandt sich in das Gästebuch des jeweiligen Rathauses einzutragen. So trat er wieder einmal, nachdem er sich verewigt hatte, nach draußen und wurde von einem durchdringenden Marschlied empfangen. Ein Kinderblasorchester hatte sich zu seinen Ehren vor dem Rathaus aufgebaut und blies nach Leibeskräften. Einige Kinder verschwanden geradezu hinter ihren riesigen Instrumenten. Brandt blickte versonnen auf die kleinen Blechbläser und lächelte gütig, wie es schien. In diesem Augenblick betätigte Harry Walter den Auslöser. [8]
Der Werbeprofi erinnert sich daran, dass Willy Brandt ein sehr kooperativer Partner war, der sich auf ihn und seine Strategien, seine Kompetenz verließ, ohne sich einzumischen, ohne zu glauben, er selbst wüsste besser, wie man der Öffentlichkeit Politik und den Kandidaten verkauft. Nur zwei Mal schlug Brandt betont moderat Änderungen vor. Als Harry Walter für die Bundestagswahl 1969 für die SPD textete »Wir haben die besseren Männer«, machte Brandt daraus »Wir haben die richtigen Männer«. Ich-Lautstärke und Selbstanpreisung war Brandt unangenehm.
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