Die Familie Willy Brandt (German Edition)
lange nach Hitler da, seine Lebensspanne (1876 bis 1967), schien den furchtbarsten Kanzler aller Zeiten (1889 bis 1945) gleichsam friedlich zu überbieten und somit, mit dieser gelebten Zivilität, vergessen machen. Unter Adenauers Obhut mochte man sich von Hitler weniger beladen fühlen, weil der alte Mann aus Rhöndorf ein Kontinuum suggerierte, wo der »Führer« doch alles zerschlagen zu haben schien.
Und Erhard, dieser kurzatmige Etappenkanzler, taugte ebenso wenig zum Gefühlsartikulierer oder Gefühlsventil. Mit ihm verband man Behaglichkeit, wirtschaftliche Leistungskraft, Gefühle in Aspik, er blieb, auch als Kanzler, eher ein fähiger Minister, aber keiner für’s große Ganze.
Als dritter Gefühlsunkundiger trat Kurt Georg Kiesinger an. Er wollte ein stolzer, nobler Bürger sein, all das Vergangene lächelte er tapfer weg. Er provozierte zwar Empörung, weil er eine undurchsichtige Rolle im Propagandaapparat der Nationalsozialisten gespielt hatte, aber diese aggressiven Gefühle blendete er hartnäckig aus. Die Ohrfeige, die ihm Beate Klarsfeld 1968 aus Protest gegen seine Funktion im »Dritten Reich« gab, dieses hilflos-selbstgerechte Zeichen markierte Kiesingers Dilemma: Als Kanzler des Übergangs gelang es ihm nicht, die Gefühlswelten einer neuen Zeit aufzunehmen oder anzusprechen. Er blieb ein kühler Mann, der eine wohlkonservierte Aura tadelloser Bürgerlichkeit pflegte, die von Früher, Einst und Gestern sprach, aber diese habituelle Befestigung war undurchlässig für Emotionen.
Nach diesen drei Gefühlsverweigerern oder Gefühlsunkundigen hatte sich eine Menge Gefühl gestaut: das Gefühl, um die eigene Jugend und um den eigenen Bildungsweg betrogen worden zu sein, Trauer über die verlorene Heimat, dumpfe Ohnmacht angesichts des nazistischen Selbstbetrugs, Aggressionen gegen die Besatzer oder Dankbarkeit gegenüber den Befreiern, die Unfähigkeit, den Verlust des verbrecherischen Führervaters zu betrauern, Angst vor dem Kommunismus, Scham über die Verbrechen, die man zu verantworten hatte, Wut über die Teilung des Landes, die Mauer und die kalte Machtpolitik der Alliierten, Furcht vor einem Dritten Weltkrieg und all die aufgetauten Gefühle der jungen Generation, die anfing, die Kriegsgeneration kritisch zu befragen und emotional zu provozieren.
Brandt hingegen forderte Gefühle heraus, nicht so sehr durch seine Reden, ja doch, das auch, aber mehr doch durch seinen Lebensweg, durch sein Schicksal, durch seinen politischen Gesamtleib, wozu sein Emigranten- und Widerstandskämpferweg ebenso gehörte wie die Verleumdungen dieses Weges, seine merkwürdig zerschrundene Rhetorik aus Pathos, Asche und Stein, seine Rolle als Bürgermeister der geteilten Stadt, seine zwei gescheiterten Versuche, Kanzler zu werden, seine Ostpolitik, die als Verrat und Zurückweichen vor dem Kommunismus empfunden werden konnte, das Wissen um den fehlbaren Menschen Brandt, usw. usw. Brandt kitzelte die so unterdrückten Emotionen heraus, an ihm schieden sich die »Geister«, die Generationen, die ewig Gestrigen und die ewig Morgigen, an ihm, durch ihn trafen die widerstreitenden Empfindungen zusammen, weil die einen ihn verteidigten und die anderen ihn angriffen, dieses Hin und Her von Angriff und Verteidigung, von Empathie und Ablehnung, von Aggression und Annahme machte überhaupt so etwas wie einen emotionalen Marktplatz des Landes greif- und spürbar. Das »Tua res agitur«, das die Lateinlehrer ihren Schülern so gerne um die Ohren hauten, das wurde an ihm erst so recht verstanden, und die Bürger beteiligten sich, selbst wenn sie hasserfüllte Briefe schrieben oder Wände mit feindseligen Parolen beschmierten, Wahlplakate abrissen oder Brandt-Anhänger schmähten. Die mussten sich bekennen, Position beziehen, ihren Mann verteidigen, und das taten sie auch. Sie bekannten sich zu diesem »anderen Deutschen«, sie trugen »Willy-Wählen!«-Buttons, sie verteidigten ihn am Arbeitsplatz, am Stammtisch, in der Schule, an der Universität oder am heimischen Küchentisch. Die berühmte Serie »Ein Herz und eine Seele« von Wolfgang Menge thematisierte genau das: den Kampf der Gefühle am Küchentisch, politische Konflikte, die zu innerfamiliären Konflikten, innerfamiliäre Konflikte, die ihre Entsprechung auf der politischen Bühne fanden. Und Willy Brandt war der Umkämpfte, der Umstrittene, der dem Land emotionales Engagement abverlangte, auch und gerade am Küchentisch. Während »Ekel Alfred Tetzlaff«, der
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