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Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Titel: Die Familie Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Körner
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ewige Reaktionär und ressentimentgeladene Spießer (Heinz Schubert) gegen die »Sozen« stänkert und bollert, verteidigt sein Schwiegersohn Michael (Diether Krebs), die »langhaarige bolschewistische Hyäne«, wie Alfred sich auszudrücken beliebt, den Kurs der SPD. Auch das, dieser ideologische Kleinkrieg, bedeutete: »Mehr Demokratie wagen!«
    Im eigenen Familienleben jedoch, im Familienleben der Brandts konnte es nicht darum gehen, das Gefühl einer Zeit aufzufassen, es symbolisch-sprachlich auszudrücken, ein Repräsentant zu sein, sondern hier galt es, sich dem Gegenüber unmittelbar emotional zu zeigen und zu erkennen zu geben. In der Familie gibt es keine medialen Pufferzonen, keine politischen Codes und Vokabeln, hinter denen man Zuflucht suchen kann. Wo andere in Familien Halt finden, wenn sie sich öffnen, Gefühle zeigen, sah Brandt sich von Haltlosigkeit bedroht, sah er sich aufgelöst, sein Selbst, sein von Kindheit an beschädigtes und nie ganz zu Ende entwickeltes Selbst davonschwimmen. Je mehr unausgesprochenes und ungelebtes Gefühl sich in der Familie Brandt aufstaute und zu Bergen von Erwartung gipfelte, desto einsilbiger, sprachloser und steinerner wurde Brandt, der diese Sehnsüchte spürte, aber keinen Weg sah, ihnen gerecht zu werden.
    Willy Brandt war kein Mensch, der an den Menschen glaubte, jedenfalls an den Einzelnen nicht, ja, von Fall zu Fall schon (gleichwohl zweifelsreich), aber sonst war seine Erwartung an das Gute im Menschen, im Mitmenschen eher schwach ausgeprägt; die Verführung zum Bösen einzurechnen und gleichzeitig darauf zu hoffen, der Mensch möge sich dem Guten zuwenden – was schon schwieriger zu gestalten war, weil es Kraft kostete, während man sich dem Bösen einfach träge und taub überlassen konnte –, blieb seine Form des Realismus, seine schüttere Zuversicht.
    Willy Brandt glaubte an keinen Gott, war Agnostiker, ein Mann ohne Himmel über sich, von dem er sich aufgehoben fühlen konnte. So floh und fand Brandt Halt und Bedeutung vor allem in der Geschichte, im Glauben an seinen Platz in der Geschichte und im Glauben daran, dass die Geschichte langsam, ganz langsam den Fortschritt entwickle, sofern sie, vorangetrieben von den richtigen Kräften, Parteien und großen und kleinen Politikern, ein menschlicheres Gesicht zeigen würde. Brandt fand Halt häufig genug nur in Augenblicken, historischen Augenblicken, die ihm seine Bedeutung vor Augen führten, gelebte Geschichte, die seiner besonderen lebensgeschichtlichen Signatur bedurfte, um sich selbst zur Sprache zu bringen.
    Wer hätte in den Jahren der Krise, des Mauerbaus die Rolle des Regierenden Bürgermeisters besser ausfüllen können als er? Ein Mann, der in der Emigration an den Grenzen und Distanzen gelitten hatte und sich eiserne Hoffnungen auf das Ende des Bösen antrainiert hatte. Der die empörte Masse beschwichtigen konnte, wo es nottat, und ihr gleichzeitig etwas von einer Zuversicht lieh und Hoffnungen am Leben hielt, wo andere vor dem historischen Augenblick versagt hätten, weil sie nicht Brandts pathetische Kraft besaßen, ein Pathos, das nicht leer und ungedeckt war, sondern das reich erlitten und lebendig war, ein Pathos, das keine hohle Phrase, sondern lebensgeschichtlich in den Mann eingebrannt war, das eher glühte als flammte und zu ihnen sprach. Nur im Einklang mit der Geschichte vermochte Brandt die Idee von seiner Unentbehrlichkeit aufrechtzuerhalten, die Hoffnung daran, dass sein Leben als ein gelungenes und sinnreiches aufgefasst werden könne, dass etwas bliebe von ihm, über den Tag hinaus.
    Gegen Ende seines Lebens, in seinen staatsmännischen Erinnerungen, suchte Brandt Halt in der Rolle des Staatsmannes, die für ihn keine bloße Rolle war, sondern die Matrix seiner Existenz. Es fiel ihm wohl leichter, verfeindete Staaten miteinander ins Gespräch zu bringen als die eigenen Söhne, die keineswegs verfeindet sind, aber doch jeder auf seine Weise an der Übermachtgestalt und der privaten Sprachlosigkeit des Vaters litten. Willy Brandts letzte Autobiographie, sein Buch »Erinnerungen«, ist das Totenhemd und Auferstehungsgewand, das er sich selbst zu Lebzeiten überstreifte. So, in diesem Kleid, wollte er die Erde verlassen. So wollte er gelesen, verstanden, gesehen, gedeutet werden. Das war er, der Mann, der seinen Platz in der Geschichte gesucht hatte, der von der Geschichte selbst gesucht und gefunden worden war – sie, die Geschichte, und er hatten sich aneinander gefunden,

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