Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Situation eskalieren und die Staatsmacht zu unbedachten Reaktionen verführen können. Da stand einer, und das erkannten auch die Tausende unter dem Fenster, der war in gewisser Weise auch unfrei und gefangen wie sie, ich wäre jetzt gerne ein anderer für euch, aber ich kann, ich darf es nicht sein, lasst uns hoffen und verhandeln, diese Botschaft sprach aus dem Mann, seinem Körper seiner Präsenz.
Der Kniefall von Warschau war für Willy Brandt ein Körper- und Gefühlsdrama ganz eigener Art. In seinen »Erinnerungen« schreibt er unüberhörbar bewegt: »Es war eine ungewöhnliche Last, die ich auf meinem Weg nach Warschau mitnahm. Nirgends hatte das Volk, hatten die Menschen so gelitten wie in Polen. Die maschinelle Vernichtung der polnischen Judenheit stellte eine Steigerung der Mordlust dar, die niemand für möglich gehalten hatte. Wer nennt die Juden, auch aus anderen Teilen Europas, die alleine in Auschwitz vernichtet worden sind? Auf dem Weg nach Warschau lag die Erinnerung an sechs Millionen Todesopfer. Lag die Erinnerung an den Todeskampf des Warschauer Ghettos, den ich von meiner Stockholmer Warte verfolgt hatte und von dem die gegen Hitler kriegführenden Regierungen kaum mehr Notiz nahmen als vom heroischen Aufstand der polnischen Hauptstadt einige Monate danach.« In der polnischen Hauptstadt wollte der deutsche Bundeskanzler den »Warschauer Vertrag« unterzeichnen, der das angespannte Verhältnis der beiden Ländern entspannen und normalisieren sollte, wobei ihm die faktische Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze in der Bundesrepublik große Gegnerschaft, ja Hass eintrug.
Warum knieten Sie? Hatten Sie das geplant? Wann stand diese Geste für Sie fest? Hat Ihnen jemand geraten? Oder war es eine eigene, spontane Eingebung? Willy Brandt sind diese Fragen immer wieder gestellt worden. Er hat sie stets knapp beantwortet, er hat die Geste nie zerredet, das war klug, aber es entsprach auch seiner nordischen Natur, denn der Lübecker wurde einsilbig, wenn es um sehr persönliche, innere Vorgänge ging. Er habe, antwortete er dann stets oder schrieb es, etwas getan, was man tut, wenn die Sprache versagt, wenn die Erinnerung an die Millionen Ermordeten quält. Er habe für sein Volk um Vergebung gebeten und ja, auch gebetet.
Als Brandt am Morgen des 7. Dezember sein Quartier im Schloss Wilanow verlässt, tut er das »in dem Gefühl, die Besonderheit des Gedenkens am Ghetto-Monument zum Ausdruck bringen zu müssen«. Der Bundeskanzler steckt also an diesem Morgen »in dem Gefühl«, er steckt im Gefühl und es steckt in ihm, es rumort, arbeitet, drängt und sucht einen Ausdruck. Wenn man sich Brandts Kniefall ansieht, niemand wusste etwas davon, dann merkt man deutlich, wie sehr er in diesem Augenblick um das rechte Maß ringt, um die angemessene Bewegung, um die Würde seines Körpers, der da kein privater Leib mehr ist, sondern ein öffentlicher, ein repräsentativer, der sich der vollen Bedeutungslast und ikonischen Wucht sehr bewusst ist. Dieses Spannungsverhältnis auszuhalten, der private Körper verschwindet hinter dem repräsentativen Leib, muss für Brandt einen enormen Kraftakt dargestellt haben, ein halsbrecherischer Balanceakt, der schrecklich hätte misslingen können. Es ist wohl in diesem Zusammenhang nicht banal darauf hinzuweisen, dass Brandt kein sportlicher Mann war, eher einer, dem der Körper abhandengekommen war in Amt und Würden, eher einer, dessen Körperbeherrschung schwach ausgeprägt war. Auch das Knien gehörte nicht zum Erfahrungsschatz des Protestanten, der Kirchen allenfalls als Festtagschrist besuchte. Sind Sie 57 Jahre alt? Brandt war es damals in Warschau. Ich bin 47, und mir fällt es schwer, mich hinzuknien, ohne mich abzustützen, und es fällt mir auch schwer, wieder hochzukommen, ohne die Hände zu Hilfe zu nehmen. Nur beim Hochkommen benutzt Brandt die Hände, allerdings nur in der Luft zum leichten Ausbalancieren, es ist ein leichtes Schwanken bemerkbar, aber schon hat er sich nach oben gebracht. Hinabgesunken war er, ohne sich abzustützen. Als er die Kranzschleifen zurechtzupfte, die obligatorische Geste des Staatsmannes, muss er den Kniefall schon gedacht haben, denn dieses Zupfen, Zurechtlegen fällt auffällig kurz und knapp aus, es drängt den Mann zur schwereren Geste des Tages.
Wer kniet denn da in diesem Augenblick? Der Kanzler? Willy Brandt? Der Emigrant? Der politische Führer? Ein Christ? Ein Verhandlungsreisender in Sachen Ostpolitik? Ein Repräsentant
Weitere Kostenlose Bücher