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Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Titel: Die Familie Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Körner
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aller Deutschen oder nur der Stellvertreter einer Minderheit? Ein Regierungschef oder ein Abgeordneter aller Parteien? Brandt musste gegenüber der Welt, gegenüber den Opfern und ihren Nachfahren solche Überlegungen zum Schweigen bringen, die Geste musste im Kern von allen politischen Zuschreibungen frei sein, obschon sie hochpolitisch war und auch so gedeutet wurde. Wäre sie aber nur als politischer Akt wahrgenommen worden, als kalkulierte Demutsbekundung, hätte sie jegliche Aufrichtigkeit und Glaubwürdigkeit verloren. Sie musste also spontan sein oder wirken und menschlich erscheinen, aber doch zugleich mit staatsmännischer Beherrschung ausgeführt werden. Brandt stand also vor einem äußerst diffizilen und komplexen Darstellungsakt, der ihm vielleicht nur gelang, weil er sich auf seine Gefühle verlassen konnte, die ihn zu dieser Geste nicht hinrissen, sondern leiteten. Wie jeder Schauspieler stand Brandt vor der Frage, wie intensiv er den Dialog seiner Gefühle mit denen seiner Figur verknüpfte, wie sehr er sich dieser Figur hingab oder sein Innerstes in der Figurengestaltung offenlegte. Doch anders als ein Schauspieler konnte Brandt seine Rolle nicht abstreifen, denn ein Kanzler hat keinen Vorhang, der fällt, kein Vorstellungsende, keine Garderobe zum Abschminken und Umkleiden. Das Kanzleramt konnte Brandt verlassen, das Amt des Kanzlers nicht. Alles, was er als Privatmann tat, musste vor dem Amt bestehen, musste sich verantworten, musste und sollte der Würde und dem Ernst des Amtes Genüge tun. Auch deshalb war es für Brandt ungemein wichtig, gespiegelt zu bekommen, dass die Geste in Warschau gelungen war, dass sie bestand vor dem Amt, aber auch vor dem Gefühl der Welt, und wie schwer muss es sein, eine eigentlich gefühllose Institution und gefühlsbeladenes Gedenken zu verbinden? Brandt hat in diesem Zusammenhang auch von den Tränen in den Augen seiner Delegation gesprochen, und er hat in seinen Erinnerungen auch erzählt, dass die Frau des polnischen Ministerpräsidenten Josef Cyrankiewicz weinte, als sie mit einer Freundin über den Kniefall sprach. Diese Tränen waren Brandt wichtig, weil die ihm zeigten, dass er mit seiner Geste nicht in die Irre gegangen war, sondern symbolisch Gefühle gewagt hatte, wo Worte mutlos bleiben.
    Während ich an diesem Kapitel schreibe, bitte ich Peter Brandt, sich die Szene noch einmal auf YouTube anzuschauen und mir seine unmittelbare Reaktion, sein Empfinden angesichts des Kniefalls mitzuteilen: »Habe mir gerade noch einmal den Kniefall angeschaut, eine tiefbewegende Geste. Allerdings ist für mich überhaupt nicht erkennbar (weder damals noch heute), was im Innern meines Vaters da vorgegangen ist. Das Gesicht wirkt maskenhaft-versteinert. Es konnte wohl anders auch nicht sein – es war ja völlig undenkbar, sich von Gefühlen übermannen zu lassen …«
    Der Mediävist Ernst Kantorowicz hat in seiner Studie »Die zwei Körper des Königs« (1957) einen juristischen Kunstgriff mittelalterlicher Herrschaft aufgenommen und daraus eine Theorie politischer und dynastischer Herrschaft gesponnen. Demnach besaß der mittelalterliche Herrscher zwei Körper, seinen persönlichen Körper, der der natürlichen Ordnung unterworfen war, der krank wurde, schwach, hinfällig und schließlich starb, und er besaß den Herrschaftskörper, den unsterblichen Leib, der eine eigene Ordnung begründete, die sich der irdischen Ordnung entzog und wie ein Gott über dem irdischen Alltag thronte. Dieses Über-dem-Alltag-Thronen begründete seinen Herrschaftsanspruch, der sich ebenfalls dem Tag entzog und darauf angelegt war, über Generationen in alle Ewigkeit zu währen. Nun ist Brandt kein König, aber der Kniefall hat sich als ikonisches Bild schon zu seinen Lebzeiten von ihm gelöst und ins Weltgedächtnis eingeschrieben. Ich will damit keineswegs sagen, dass Brandt in diesem Moment auf seine mediale Unsterblichkeit zielte, aber naiv war er nicht, und dass er hier etwas tat, was sich letztlich seiner Gewalt und Überlieferung entzog, dass er etwas tat, das größer war als er selbst, das ihm so oder so nachlaufen würde, dürfte ihm ganz klar gewesen sein und seine Schritte auf dem Weg zum Mahnmal nicht gerade leichter gemacht haben. Musste das einen, der selbst vor Hitler hatte fliehen müssen, der den Nationalsozialismus bekämpft hatte, nicht zerreißen, hier zu knien, hier am sogenannten Umschlagplatz, wo die Nazis die polnischen Juden selektiert und in den Tod geschickt

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