Die Familie Willy Brandt (German Edition)
sich geliebt, aneinander gelitten, sich gebraucht – sie waren sich gegenseitig die Geburtshelfer ihrer Existenz bzw. ihrer Existenzmomente.
Die Geschichte ist Brandts größte Geliebte, die Frau, die alle anderen Mütter und Gefährtinnen umschloss und hinter sich ließ; aus dem Schoß der Geschichte kam er, und in ihn wollte er, Brandt, wieder eingehen. Alles, was ihn daran hinderte, musste daher zurückgelassen und abgestreift werden. Der Geschichtsmann Brandt ließ die Familie Willy Brandt in seinen Erinnerungen hinter sich, weil er hier, an diesem Ort, der historischen Erzählung seines Lebens, nichts duldete, was er nicht beherrschte, was ihn überforderte, was seine Lebensrolle gefährdete. Es war nicht Undankbarkeit oder Gefühlskälte, die ihn seine Frau und seine Kinder aus diesem Buch herausschrieben ließ, es war eher ein Übermaß an Gefühl und die Unfähigkeit, das Private und das Politische in einen Dialog zu bringen. Welcher politischen Autobiographie wäre das auch wirklich gelungen? Hier, in diesem politischen Roman seines Lebens, wollte er bleiben, in dieses Haus wollte er einziehen, das war sein Olymp, sein selbstgebautes Pantheon, hier sollte kein menschliches »Kleinklein«, kein privates Gefühl stören. Wo in den Erinnerungen von Gefühl die Rede ist, wo sich Brandt emotionale Ausbrüche gestattet, da geht es um die große Geschichte, da geht es um zerrissene Heimaten oder Kriege zwischen Brüdern, da geht es um die großen Dramen der Weltfamilie. Rut Brandt war befremdet, auch verletzt, dass ihr Mann sie aus dieser Version seines Lebens aussperrte. Sie mochte ihm auf diesem Weg in die große Geschichte nicht folgen, weil sie diese Art der Darstellung für eine retuschierte Form ihrer gemeinsamen Vergangenheit hielt. Da, wo sie an seiner Seite war, fehlte sie, und wo sie fehlte, wäre sie manches Mal gerne dabei gewesen: »Aber da«, schrieb sie, »passte ich dann nicht in die Landschaft.« Mit der Landschaft war in diesem Fall Erfurt gemeint, wohin sie ihren Mann gern begleitet hätte.
»Der Tag von Erfurt. Gab es einen in meinem Leben, der emotionsgeladener gewesen wäre?« Das schreibt Willy Brandt über seinen Besuch am 19. März 1970 in jener Stadt, der Auftakt der deutsch-deutschen Verhandlungen. Brandt reiste mit dem Sonderzug nach Thüringen, und jenseits der Grenze standen Tausende von Menschen entlang der Strecke und winkten dem vorbeifahrenden Willy Brandt, dem Hoffnungsträger von drüben, ergriffen zu. Mitreisende Journalisten sahen einen Kanzler, der sich seiner Gefühle nicht scheute, Tränen standen in seinen Augen. In Erfurt ereignete sich dann jene berühmt gewordene kollektive Gefühlsaufwallung, als die Erfurter Bevölkerung vor den »Erfurter Hof« zog, um Willy Brandt ans Fenster zur rufen. Im Zug, im schnellen Aneinandervorbei, konnte Brandt Gefühle zeigen, hier, angesichts der Masse, die die Volkspolizei schon überrumpelt hatte, die nur auf eine große Geste wartete, die die gestauten Gefühle zum Überfließen brachte, war äußerste Gefühlsbeherrschung und Gefühlsverantwortung geboten. Er trat ans Fenster, die Masse schrie auf. Eine Zeitzeugin, die in der Menge gestanden und nach oben gesehen hatte, schilderte ihre Eindrücke: »Und als Brandt dann am Fenster erschien, das war wirklich … das kann man nicht beschreiben, was das für ein Schrei war, wie so eine Erlösung, frei schreien, es war unbeschreiblich.« Brandt lächelte, winkte erst zaghaft grüßend, dann um Zurückhaltung bittend. »Ich war bewegt und ahnte, dass es ein Volk mit mir war.« Brandt dämpfte Gefühle, er beschwichtigte, er wusste, dass jede Triumphgeste fehl am Platz gewesen wäre und zum emotionalen Exzess hätte führen können. Mit seiner Hand hielt er die Gefühle klein, bat die Menschen um etwas weniger Laut- und Gefühlsstärke, »sachte, sachte« mochte diese Geste ausdrücken, ohne dass man den Eindruck hatte, da stünde ein gewiefter Dirigent, der sich seiner Mittel gewiss war. Nein, Brandt war unübersehbar unsicher, das sah auch seine Frau zu Hause am Fernsehgerät, aber sie sah auch, dass es eben jenes echte Gefühl war, jene echte Sorge um die Menschen, die auf ihn hofften, die ihn befähigte, die heikle Situation zu meistern. Er durfte die Gastgeber nicht brüskieren, er durfte die Erfurter nicht enttäuschen, aber er durfte sie auch nicht in Gefahr bringen, denn jedes unbedachte Zeichen seinerseits, jedes gestische Triumphieren oder emotionale Aufstacheln hätte die
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