Die Familie Willy Brandt (German Edition)
am Schluss (gegen 1.00 Uhr) hatte er sich nach Zeiten heftigen Schwankens wieder gefangen. Dabei ist es nur die ›Außenhaut‹, die ins Schwimmen gerät, in Wahrheit ist er hellwach. Eigentlich kann er nur in diesem Zustand Mensch sein und die Mauer, die ihn von anderen trennt, überwinden. Es ist dann immer schmerzlich zu sehen, welche Sehnsucht nach Zärtlichkeit er hat.«
Die »Sehnsucht nach Zärtlichkeit« hat Brandt wohl nur selten stillen können. Die kollektive Phantasie ist anderer Auffassung. Die kollektive Phantasie weiß selten viel und schäumt gewaltig. Insbesondere Männerphantasien haben beim Rücktritt von Willy Brandt eine unheilvolle Rolle gespielt. Nach der Verhaftung von Günter Guillaume hatte das Bundeskriminalamt die Beamten von Brandts Sicherungsgruppe verhört, um herauszufinden, was der Spion wusste, was er hätte verraten können. Dabei kamen »Frauenkontakte« zur Sprache. Guillaume hätte dem Kanzler Frauen »zugeführt«. Auch Wibke Bruhns wurde phantasievoll zur Spielfigur und »Zugeführten« gemacht. Die Journalistin meinte einmal sarkastisch, vermutlich würde noch auf ihrem Grabstein stehen, dass sie die Geliebte von Willy Brandt gewesen sei. Sie könnte recht behalten. Bei meinen Recherchen bin ich immer wieder Leuten begegnet, die das noch heute annehmen, weitertragen, nicht nur der Volksmund, sondern auch Menschen, die Brandt und Bruhns gut kannten und es besser wissen könnten. »Ja, die Wibke Bruhns war doch auch … oder? Sie hat doch ihr Kollier im Hotelzimmer liegen lassen … war es nicht so?« Die Fama ist unsterblich, die Wahrheit liegt im Sauerstoffzelt. Der »Focus« druckte im Februar 1994 Auszüge aus der »Geheimakte Brandt«, ein BKA-Papier, das die Erkenntnisse der Befragung von Brandts Personenschützern bündelt, ein Papier, das viele imaginäre Geliebte aufmarschieren lässt. Ein Papier, voll verschwitzter James-Bond-Phantasien, Herrengedeck aus Trieb und Tratsch.
Als Wibke Bruhns den weibersüchtigen Artikel liest (er ergötzt sich fünf Mal an dem Wort »zuführen«), schreibt sie am 14. Februar 1994 einen zornigen Brief an Johannes Rau, den sie in Kopie an Rut Brandt schickt. Sie wirft Rau vor, sich als Kolporteur an den »Weibergeschichten« beteiligt zu haben, und zwar auf ihre Kosten. Und sie erzählt ihm, wie es wirklich war in jener Nacht, als der Kanzler sie in sein Zimmer bat. Sie schreibt : »Aber ich will Ihnen sagen, was sich abgespielt hat im Hotel King David. Willy Brandt nahm mich im Auto mit vom Empfang am ersten Abend seines Staatsbesuches dort. Er fragte mich, ob ich mit ihm noch was trinken wollte – er müsse diesen Tag, seinen ersten Tag in Israel, noch einmal Revue passieren lassen. Das konnte und wollte ich nicht ablehnen. Wir waren hundert und mehr begleitende Journalisten, und jeder suchte dringend ›seine‹ Geschichte. Wir gingen in das Wohnzimmer seiner Suite – Bauhaus, der Chef der Sicherungsgruppe, schenkte uns einen Whisky ein, verließ das Zimmer, und dann fing Brandt an zu reden: über sein schwieriges Verhältnis zu Israel (nicht zu den Juden), über seine Abneigung gegen Golda Meir (recht hatte er), über die Problematik, nach dem Kniefall in Warschau etwas zu finden, das diesen übertreffen musste (das ist ihm nicht gelungen), über seine Beklemmung in Yad Vashem. Und im Verlauf der zwei Stunden, die ich da war, kam er vom Hundertsten ins Tausendste: über die Problematik der Kanzlerschaft, über die Schwierigkeit mit Wehner und Schmidt – er sprach wie einer, der endlich mal ungeschützt reden wollte, weil ihm das Herz oder der Kopf voll waren, der Besuch in Israel ihn psychisch anstrengte und dennoch ein Erfolg werden musste. Er war erschöpft und vollkommen offen. Um vier Uhr morgens stand er auf, brachte mich zur Tür, küsste mich wie ein Vater auf die Wange und entließ mich. Und ich hatte keine Geschichte. Denn nichts von dem, was er mir erzählt hatte, konnte ich veröffentlichen, ohne sein Vertrauen zu mißbrauchen. Das war’s. Aber Sie, lieber Herr Rau, der Sie sein Freund waren, trauen Ihrem Freund offenbar nur eine Bettgeschichte zu. Ist diese reduzierte Form der Phantasie das Kriterium der Männerfreundschaft? Wo ist der Respekt gegenüber dem Menschen Brandt, von mir mal nicht zu reden? Ich finde es des Nachdenkens wert, wieweit Männerphantasien beigetragen haben zu dem, worüber jeder in Münstereifel angeblich so erschüttert war und was Willy Brandt über seinen Tod hinaus schmäht.«
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