Die Familie Willy Brandt (German Edition)
hatten, hier, wo die einen dazu bestimmt wurden, sich zu Tode zu hungern und zu schuften, während die anderen gleich in die Züge gepfercht wurden, die sie in die Gaskammern brachten? Kantorowicz König weiß seinen sterblichen Körper im unsterblichen Leib des Königs geborgen, aber Brandt war ein Kanzler, dem das Amt seinen sterblichen Körper bestritt, in Dienst nahm und eifersüchtig bewachte. Für den Kanzler der Bundesrepublik gab es keine feudalen Komfortzonen, wie die Guillaume-Affäre nachhaltig bewies, wo es bei seinem Rücktritt auch um Körperwissen ging, um private Sphären, die öffentlich zu werden und das Amt des Kanzlers zu beschädigen drohten. Willy Brandt ist als Kanzler auch an der pietistischen Körperfeindlichkeit seiner Gegner gescheitert, die vorgaben, das keusche Amt gegen den unkeuschen Amtsinhaber und seine körperlichen und seelischen Sehnsüchte verteidigen zu müssen.
»Hat«, frage ich Matthias Brandt, »ihr Vater sich nicht auch in seinem politischen Alltag emotional erschöpft? Blieb da noch ein Rest für die Familie?«
»Die emotionale Erschöpfung oder Verausgabung, über die wir vorhin gesprochen haben, kulminiert ja vielleicht in einer der berühmtesten Gesten des 20. Jahrhunderts, im berühmten Kniefall. Das ist ein ikonischer Moment, ohne Frage, aber ich muss Ihnen sagen, wenn ich dieses Bild sehe, dann tue ich das nicht mit ungeteilter Bewunderung oder Freude. Manchmal denke ich, vielleicht hat er sich da einfach zu viel zugemutet. Oder es ist meine ganz eigene persönliche Anteilnahme, wenn ich denke: Warum hast du dir das alles aufgeladen, warum gerade du? Ich glaube, er ist mit dieser Geste so weit gegangen, dass er danach … ich habe mich nicht wie andere im Detail mit der Biographie meines Vaters beschäftigt, aber mich würde sehr interessieren, ob nicht von diesem Moment an, vom Kniefall, ein Prozess der Erschöpfung deutlich nachzuweisen ist. Vielleicht könnte man eine emotionale Chronologie schreiben, in der diese Stufen nachzuweisen sind. Der Moment des größten Einsatzes, der größten Bewunderung, der größten Anfeindung, der Gipfel der Emotionalität war vielleicht für den Menschen ein Schritt zu viel, mehr als er tragen, mehr als er leisten konnte. Das ist natürlich Spekulation.«
Wo Worte versagen, beginnt der Körper zu sprechen. Willy Brandt 1970 in Warschau
[picture alliance/Sven Simon]
Willy Brandt ist oft als Gefühlspolitiker bezeichnet worden. So urteilt etwa Helmut Schmidt in seinem Erinnerungswerk »Weggefährten« über ihn: »Willy war ja selber von vornherein ein Mann, der sich sehr weit von seinen eigenen Gefühlen leiten ließ.« Nun mag das im Vergleich mit anderen Politikern seiner Generation stimmen, andererseits war Brandt ein Mann, der um seinen Gefühlsreichtum, ja seine Gefühlsgefährdungen wusste und sie auf der politischen Bühne sehr genau zu kontrollieren versuchte. Was aber macht einer am Ende eines nasskalten, niederdrückenden Tages in Warschau, der ihn an die Grenzen des beherrschbaren Gefühls trägt? Was macht einer, der den kalkulierten und festgeschnürten Staatskörper verlassen will, ein Amtskörper, der mit stiller, stummer, aber nicht geringer Gewalt auf den Amtsträger einwirkte?
Willy Brandt sucht Nähe, fürsorgliche und soziale Ummantelung. Am Abend des Tages sitzen einige Gefährten seiner Delegation im Schloss Wilanow zusammen: Egon Bahr, Horst Ehmke und auch einige Journalisten. Brandt sucht das Gespräch und das Getränk, das ihn löst und lockert, diesen pflichtgepressten, staatstragenden Körper. Brandt sucht Nähe und sinkt einer anwesenden Journalistin fast wehrlos entgegen. Aber dieses Obdach, diese Zuflucht bleibt ihm verwehrt – hier reist der Kanzler der Bundesrepublik, hier sitzt der Körper des Knienden, hier hockt das Amt und wird sorgsam gehütet von seinen Referenten, die ihn – wie so oft auf Auslandsreisen – ins Bett zwingen, weil sie den morgigen Tag fürchten, weil sie die Pflichten des Chefs verzeichnet haben und ihm das Amt bis an Bett nachtragen.
Nein, diese Diener kennen zwar Mitgefühl, aber kaum Pardon, wenn es gilt, das Amt gegen die Bedürfnisse des Menschen zu verteidigen. So berichtet etwa sein Büroleiter Reinhard Wilke in seinem Buch »Meine Jahre mit Willy Brandt« über einen Abend, den Brandt 1972 zu Ehren des emigrierten Malers Max Ernst gibt: »Aber er kann in seiner physischen Verfassung keinen Alkohol mehr vertragen. Schon nach dem Essen war er angeschlagen,
Weitere Kostenlose Bücher