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Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Titel: Die Familie Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Körner
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Johannes Rau hat sich danach bei der Verfasserin des Briefes entschuldigt.
    Es ist aufschlussreich, zu welchen Worten, Formulierungen und Bildern Brandt in seinen Werken und Reden greift, um sein emotionales Erleben zu artikulieren. So heißt es in den »Erinnerungen« etwa über seine Zeit nach dem Rücktritt vom Amt des Parteivorsitzenden: »Warum nicht zugeben, daß ich mich freute, wenn mir Zeitgenossen, bekannte und unbekannte, Schriften schickten, die ich schwerlich selbst gefunden hätte, Erinnerungen an die Jahre des Naziterrors, an das Exil und den Berliner Widerstand, an die schlimmen Auseinandersetzungen mit den Kommunisten. Und warum nicht auch zugeben, daß es mich rührte, wenn ich Briefe bekam oder man mir Zettel zusteckte, auf einem Marktplatz, in einem Lokal, auch im Flugzeug, in denen einfache Menschen, nicht zuletzt Landsleute aus der DDR und Neubürger unterschiedlichster Nationalität, auszudrücken suchten, daß sie mich verstanden hatten und mich nicht vergessen wollten.« Er gebraucht hier gleich zwei Mal die Formulierung »warum nicht zugeben«, an anderer Stelle des Buches heißt es, wenn es um das Eingestehen von Gefühlen geht, »Ich gestehe gern« oder »Warum verschweigen?« Noch im letzten Text seines Lebens, im Grußwort an die Sozialistische Internationale, das der sterbende Willy Brandt im Herbst 1992 auf seinem Krankenlager in Unkel schreibt, heißt es: »Doch warum nicht einräumen: Es hat mir viel bedeutet, als Felipe Gonzales Berlin vorschlug.« In all diesen Wendungen, die sich bereits in seinen frühen Briefen an Rut finden, klingt das Vokabular der Vernehmung, der Selbstvernehmung durch, so als ob das Eingeständnis von Gefühlen etwas Kriminelles, etwas Selbstgefährdendes oder zumindest etwa Anrüchiges darstellt. Diese Art Gefühle zu zeigen wirkt so, als hätte Brandt lebenslänglich ein inneres Tribunal errichtet, in dem Ich, Über-Ich und ein paar andere misstrauische Verhörspezialisten jedes Gefühl auf sein Gefahrenpotential untersucht hätten. Erst wenn dieses innere Tribunal, die Herren des Für und Wider, die Argumente getauscht, Plädoyers und Anklagen gewechselt hatten und das Urteil gesprochen war, erst dann ließ Brandt das Gefühl in bedachtsamer Dosierung nach außen treten.
    An der oben zitierten Passage fällt weiterhin auf, dass die Gefühle erst im Rückblick auf das eigene politische Leben und die eigene Rolle in der Geschichte vor das innere Tribunal treten. Brandt blickt zurück, bilanziert, sammelt, arrondiert sein Leben, seine Bedeutung, sein Selbstbild. Dabei helfen ihm fremde Menschen, sein Publikum, die Menschen, für die er stritt, und bestätigen ihm, dass sie ihn »verstanden« hatten und ihn nicht »vergessen« wollten. Die Masse, die Wähler, an die er sich stets gewandt, um die er gerungen, zu denen er gesprochen hatte, schenkten ihm nun das Gefühl, verstanden worden zu sein. Sie gaben ihm ihn selbst zurück, indem sie die Resonanz seiner Botschaften zurücktrugen. Das Fremde ist hier das Eigene, weil das Fremde das Eigene für ihn bewahrt und gesammelt hat. Das Eigene fand erst in der Verschmelzung mit dem Fremden zu sich selbst, denn erst im Kontakt mit dem »Massenkörper«, dem »Geschichtsleib« zeugt die Geschichte den Staatsmann. Brandt konnte, was nur wenige Politiker können und konnten, zu einer Masse sprechen und den Menschen dabei das Gefühl vermitteln, er höre ihnen zu. Brandt konnte redend hören und hörend reden. Sein Mund wurde Ohr, sein Ohr wurde Mund, er sprach mit diesem Ohrmund und hörte mit seinem Mundohr. Sein Zuhören, es ist von seinen Gesprächspartnern und Mitarbeitern oft gerühmt worden, sprach zu den Menschen, und sein Sprechen hörte den Menschen zu.
    Dieses Talent, sich im atmosphärischen Dialog mit der Masse zu finden und sich spontan zu verändern, den eigenen Stil zu wandeln, hat Brandt oftmals eindrucksvoll bewiesen. Bei einer Wahlkampfveranstaltung in der Kölner Messehalle hielt Brandt eine leidenschaftliche und engagierte Rede. Die Stimmung war aufgeheizt, Brandt sprach in allen Tonlagen und ging an seine Grenzen. Plötzlich war ein aggressiver Zwischenruf zu hören, Brandt hielt kurz inne und setzte dann – nach einem Moment der Besinnung – erneut und verändert an. »Da hat jemand Demagoge gerufen!«, sagte er, und dann nahm er sich in der Lautstärke zurück, wurde im Ton sachlicher und setzte sich differenziert mit dem Zwischenrufer auseinander. Die Menge, die zuvor eher getobt als

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