Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Plural. Ein begabter Politiker wird zum Einzelnen durch die Masse sprechen, und er wird des Einzelnen gedenken, um die vielen zu fesseln. Muss der Politiker nicht sogar fühllos werden gegen den Einzelnen, um ganz bei sich selbst und seinem politischen Auftrag anzukommen? Und treibt er sein Talent auf die Spitze, macht er sich fühllos gegen den Einzelnen, wird er dann nicht fühllos gegen sich selbst? Muss er sich nicht in gewisser Weise auslöschen, um den Plural in der eigenen Brust, Überzeugung und Stimme zum Klingen zu bringen?
Sich finden, sich verlieren. Jemand, der sich als Politiker so konsequent mit seinen Gefühlen an die Geschichte bindet, an das plurale Schicksal, der wird unter Entzugserscheinungen leiden, wenn man ihm das Gefühl gibt, nicht mehr gebraucht zu werden. Im Sommer 1977 litt Willy Brandt noch immer unter seinem Rücktritt, den er nicht verwinden konnte. Zwar bekleidete er als Präsident der Sozialistischen Internationale und als Vorsitzender der Nord-Süd-Kommission zwei international hochangesehene Ämter, aber dieses Comeback als »Elder Statesman« konnte ihn vorerst nicht über die verlorenen Gestaltungsräume als Bundeskanzler hinwegtrösten. Von seinem Nachfolger Helmut Schmidt fühlte sich Brandt schlecht informiert, einen deutlichen Dissens gab es, wie und ob friedensbewegte, rüstungskritische und ökologische Stimmen in die Partei integriert werden könnten. Brandt fehlte die Bühne, die seine Persönlichkeit stabilisierte, ihm fehlte das Korsett aus Terminen und Druck, das seine Depressionen eindämmte, und ihm fehlte der Austausch mit seiner Frau Rut, über die er einmal sagte, »meine Frau ist mein bester Freund«.
Im Sommer 1977 ist ihnen nicht der Gesprächsstoff abhandengekommen, aber die Fähigkeit und der Wille, ihre Empfindungen einander mitzuteilen und zu synchronisieren. Brandt hat als Ehemann manches Mal gefehlt, nicht in erster Linie, weil er in die Fremde geliebt oder versucht hat, dorthin zu leben, eher weil er nichts gegen das Wuchern der Fremdheit zwischen ihnen getan hat. Wenn zwei sich immer noch gern haben, aneinander hängen und Bedeutendes miteinander teilen, dann sagt man sich nicht leicht voneinander los. In diesem Sommer machen die Brandts einige Tage auf der Hütte in Norwegen Urlaub, aber was ist das mal wieder für ein komisches Ausspannen, wo Journalisten und auch Mitarbeiter aus- und eingehen und Personenschützer durchs Gelände schleichen? Der Fotograf Konrad R. Müller ist auch für zwei oder drei Tage anwesend und beobachtet Brandt, den er schon lange begleitet. Ihm gelingen in dieser Zeit besondere Fotos, weil ihn sein Gegenüber kaum wahrnimmt und weil das Auge des Fotografen tief in in die Gefühlswelt des Porträtierten hinabsteigt. Das Foto ist bekannt geworden, weil es einen Mann zeigt, dessen Gesicht in Wehmut und Schmerz gekleidet ist, die Stirn von Linien zerfurcht, die sich wie existentielle Fragezeichen in die Haut versenkt haben, die Augen dunkel und feucht, der ganze Ausdruck malt Ungewissheit, ja auch Furcht und tiefste Verletztheit. Wenn nicht die Augen schon mit Tränen gefüllt sind, dann ist es der geflutete Ich-Aufenthaltsraum dieses Mannes, der sich dagegen zu wehren scheint, dass die Staudämme brechen. Dennoch ist dieses Foto nicht zudringlich, weil die schwarze Schwermut des Mannes nicht eine Sekunde als Pathos eines großen Leidens daherkommt, als monumentales Flehen. Nein, das ist zart, klein, still.
Rut Brandt löst sich aus der Beziehung, sie hat Verständnis und Zuneigung bei einem Mitarbeiter ihres Mannes gefunden, dem sie umgekehrt das Gefühl gibt, gebraucht zu werden. Das ist keine Affäre, eher ein inniges Umarmen von zwei emotional Obdachlosen. Brandt registriert es und leidet. Auch weil ihm Rut vorenthält, wie schwer diese Beziehung wirklich wiegt. Ihre Wege trennen sich. Er schreibt ihr noch einmal einen langen Brief in jenen Tagen, und dieses Dokument offenbart, wie schwer Brandt und seiner Frau Rut es fällt, einander mitzuteilen. Da ist von Vermutungen, Andeutungen, Beobachtungen und Deutungen die Rede, aber es fehlt – hier und da, bei ihm und bei ihr – an Deutlichkeit. Alles spielt ins Vage, ins Verschwommene. Es ist letztlich ein Scheidebrief, dessen Kernbotschaft lautet: Du verstehst meine Krise nicht, und ich kann sie Dir nicht nahebringen, weil Du schon fort bist, fort.
Brandt hat wohl oft und viel mit seiner Frau gesprochen, wenn sie nicht da war. Paare scheitern oft daran, dass die
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