Die Familie Willy Brandt (German Edition)
aufmerksam zugehört hatte, verwandelte sich nun, konzentrierte sich auf den Redner und hörte ihm gespannt zu. Nachdem Brandt seine Rede beendet hatte, brandete lebhafter Beifall auf, und die Zuhörer riefen »Willy! Willy!«
In den historisch-politischen, den kollektiven, den nationalen und globalen Dimensionen konnte Brandt seine Gefühl zeigen, hier war es am Platz. Hier konnte er – zwischen Ost und West – Familien zusammenführen, denn es war ja nicht die eigene Familie, die er zusammenzuführen hatte, sondern es waren Familien, die an Mauer und Stacheldraht litten, Familien, die – en masse – der großen Geschichte angehörten, so wie er. Es hat vermutlich kaum einen anderen Politiker im 20. Jahrhundert gegeben, der so genau wusste, wie verheerend das ungebändigte, aufgepeitschte Gefühl wirken, was es anrichten konnte, keinen, der besser verstanden hätte, wie kollektive Gefühlslagen den Einzelnen fort- und mitreißen und somit auslöschen können. Anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises bekannte er am 11. Dezember 1971 in Oslo: »Übrigens gehört es zu den Härten im Leben eines Politikers, besonders eines Regierungschefs, dass er nicht immer alles sagen darf, was er denkt; dass er, um des Friedens willen, seinen Gefühlen nicht immer freien Lauf lassen kann.« Das Paradoxe an Brandts Innenwelt war, dass er zu sich selbst fand, indem er sein Ich einem Plural, dem kollektiven »Wir« anvertraute, dieses Wir aber zugleich misstrauisch beäugte und es zu steuern versuchte, weil er eben wusste, dass das ungesteuerte »Wir« leicht genug ins Irrationale, ins Destruktive abglitt. Aus dieser Meta-Position der Empfindung, sich einschreiben ins »Wir« und zugleich es distanzierend beobachten, eintauchen ins Wir, aber es doch lenken und leiten, fand Brandt zu einem ihm gemäßen Selbstbild und zu einer kontrollierten Gefühlsentladung.
Brandt vermied in seinen Reden häufig genug auch dort das Wort »Gefühl«, wo man es erwarten durfte. Die Rede Willy Brandts, die er am 12. Oktober 1972 in der Dortmunder Westfalenhalle hielt, gilt als eine seiner gelungensten und effektvollsten. Mit ihr läutete Brandt den triumphalen »Willy-wählen-Wahlkampf« ein, der der SPD das beste Wahlergebnis ihrer Geschichte bescheren sollte. In dieser Rede gebrauchte Brandt das erste Mal den Begriff »Compassion«, der ihm von seinem Redenschreiber Klaus Harpprecht nahegebracht worden war. Brandt erläuterte den Genossen den Begriff folgendermaßen: »Dieses Wort heißt ›compassion‹. Die Übersetzung ist nicht einfach Mitleid, sondern die richtige Übersetzung ist die Bereitschaft, mitzuleiden, die Fähigkeit, barmherzig zu sein, ein Herz für den anderen zu haben. Liebe Freunde, ich sage Ihnen und ich sage den Bürgern und den Bürgerinnen unseres Volkes: Habt doch den Mut zu dieser Art Mitleid! Habt Mut zur Barmherzigkeit! Habt Mut zum Nächsten! Besinnt euch auf diese so oft verschütteten Werte! Findet zu euch selbst!« Auffällig an dieser Stelle ist, dass Brandt und Harpprecht die ebenso naheliegende Übersetzung »Mitgefühl« vermeiden, so als ob die ohnehin ungewöhnlich emotionale Passage dann vor Subjektivität überfließen könnte. Dass Brandt an einer Stelle, wo es am Ende der Rede um eine emotionale Zuspitzung geht, die »Freunde« zunächst siezt (»ich sage Ihnen«) und die Delegierten erst mit den beiden letzten Appellen im Plural direkt anspricht (»Findet zu euch selbst!«), zeugt in einem Moment gefühlsgeladener Dringlichkeit von einem beibehaltenen Moment der Reserve und Distanz. Vielleicht spürte Willy Brandt, dass der dreifache Appell, »Mut« zu zeigen, schließlich zu ihm zurückkehren würde, denn man ruft niemandem »Finde zu Dir selbst!« zu, ohne sich selbst vor diese Aufgabe gestellt zu sehen. Nur ein mit Zweifeln beladener Politiker wie Brandt konnte sich auf so ein Pathos der Innerlichkeit einlassen, ohne dabei ölig-pastoral und unaufrichtig zu klingen. Mag sein, dass es auch der Co-Autor Klaus Harpprecht war, der seinem Freund an diesem Punkt zurief »Nun finde zu Dir selbst!«, jetzt kommt es darauf an!
Politik denkt den Menschen immer im Plural und muss sich blind machen gegen die singuläre Existenz, gegen den Einzelnen. Gäbe sich Politik ganz dem Einzelnen hin, seinem Weg, seinem Schicksal, seinem Fühlen, seiner Existenz, seinen Koordinaten, dann würde sie zu den vielen anderen nicht sprechen können, dann verlöre sie die Macht über Millionen, über den
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