Die Familie Willy Brandt (German Edition)
er sich selbst oder andere ihm auferlegt haben. Wer oder was sind seine Gespenster?
Für die Öffentlichkeit ist der Vater, dieses ewig ferne, ewig nahe Machtwesen die Zentralgestalt, der Mann, an dem sich die Söhne abzuarbeiten hatten. Aber wie stand es um die Beziehung zur Mutter? Als Peter Brandt 1948 geboren wird, ist der Vater unterwegs. Sein Fahrer fährt die junge Mutter ins Krankenhaus. Der Vater führt in diesen und allen Jahren ein, wie er selbst in einem der Briefe jener Jahre schreibt, »Zigeunerdasein«. Rut Brandt ist viel allein mit dem Kind, mit dem sie oft nach Norwegen verreist. Das Kind Peter ist das Bindeglied. Zwischen ihr und dem »Zigeuner«, zwischen ihr und Deutschland. Sie spricht Norwegisch mit dem Kind. Das Kind bindet sie, und sie bindet sich an ihr Kind. Sie sucht Halt und Heimat und wird immer wieder auf dieses Kind verwiesen. Kein Kind kann einen Mann und ein Land ersetzen. Das merkt die Mutter, und bewusst oder unbewusst wird das auch ihre Beziehung zu dem Kind steuern. Vielleicht überträgt sie diesem Kind mehr Verantwortung, als diesem guttun kann. Fühlt sich das Kind lebenslang aufgefordert, den unsichtbaren Vater zu ersetzen? Im Sommer 1962 spitzt sich in Berlin die Lage zu, bedrohliche Truppenkonzentrationen in der DDR lassen Bürgermeister Willy Brandt einen »Handstreich gegen West-Berlin« fürchten. In »Begegnungen und Einsichten« schreibt er über diese Berlin-Krise: »Eines Nachmittags fuhr ich nach Hause, um mit meinem damals 13-jährigen Sohn Peter ein ernstes Wort zu reden: Es könne sein, dass sein Vater für längere Zeit nicht da sein werde. Dann sei er der älteste Mann in der Familie und müsse seiner Mutter helfen, so gut er dies könnte …« Nun war das wohl gar keine neue Rolle für den 13-jährigen Peter Brandt, denn er war ja nur zu oft der »älteste Mann in der Familie«. Diese Verantwortungsbürde war also längst geschultert. Alle Zeitzeugen, mit denen ich gesprochen habe, und das waren – auch und gerade in Hinblick auf Peter Brandt – nicht wenige, stimmten weitgehend darin überein, dass der Junge ernst vor der Zeit war, um Reife bemüht, nie so ganz Kind und unbeschwert, wie man es in diesem Alter hätte erwarten dürfen.
Man vertreibt ein Kind zu früh aus der Kindheit, wenn man ihm große Schuhe schnürt, wenn man es als kleinen Erwachsenen betrachtet. Der älteste Sohn geht voran, erkundet Wege, kassiert Pflicht und Tadel, tritt fehl, wird bestraft, schafft Freiräume für die, die folgen. Rut Brandt hat ihren Sohn stets angespornt, Bildung als Chance, sich von der beengten Herkunft und von Herren frei zu machen, war ungeheuer wichtig für sie. Aus dieser Verantwortung entlässt sie ihn nie. Andererseits gibt sie ihm das Gefühl, er könne in seinen Fächern noch so sehr glänzen, ihre ganze Aufmerksamkeit könne er mit diesem Weg nicht erobern. Sie ist eine patente Kameradin, sie ist stets da, wenn man sie braucht, aber wenn sie da ist, hat man vielleicht das Gefühl, dass sie nicht da ist, weil sie nicht so genau wissen will, was da los ist, und wenn man anfängt, sich zu erklären, mag sie finden, so spannend ist das nun auch wieder nicht, und das macht jetzt keinen Sinn, allzu tief in sich herabzusteigen. Sie mag es nicht, wenn man seine Seele zergliedert, und wenn man es tut, dann lass es uns schnell hinter uns bringen, das Leben ist doch zu kurz, um sich in sich selbst zu verheddern.
Unmittelbar nach Willy Brandts Rücktritt fuhren Rut, Matthias und Willy Brandt nach Norwegen. Rut Brandt schildert in »Freundesland« eine Szene, die in Hinblick auf ihre Art der Krisenbewältigung aufschlussreich ist: »Auf einem Spaziergang im Wald fragte ich Willy, ob er mir nicht sagen wolle, was geschehen war. ›Vielleicht können wir darüber lachen?‹, sagte ich.
›Nein‹, antwortete er.
›Ich werde dich nie wieder fragen‹, sagte ich, ›und ich werde dir helfen, so gut ich kann.‹«
Eine andere illuminierende Eheszene findet sich in Heli Ihlefelds »Anekdoten um Willy Brandt«, eine Szene im Übrigen, die Brandt selbst zugeliefert hat: »Vor einigen Jahren kam Willy Brandt einmal nach einem besonders arbeitsreichen, aber unergiebigen Tagesprogramm nach Hause. Er wollte seinen Missmut abladen, musste sich aber von seiner Frau sagen lassen: ›Sei bitte still, du hast es nicht anders gewollt.‹
›Das war‹, sagt Willy Brandt heute, ›eine heilsame Lehre.‹«
Die emotionalen Temperamente der Eheleute passen auf lange Sicht
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