Die Familie Willy Brandt (German Edition)
mehr so lang ist. Vielleicht kannst Du mir mal erzählen, was Ihr alles in der Schule macht. Und dann habe ich eine große Bitte: Ich möchte so gern, dass Du mir einige Fotos schickst. Alles Gute, mein kleines Ninjachen, tausend Küsse von Deinem Papa.« Der Vater vermisst seine Tochter, das lässt sich unschwer aus diesen Briefen herauslesen. Ninja nimmt einen anderen Brief, einen noch, sagt sie, dann ist es Zeit, etwas zu essen. Die Katze streift unter dem Tisch an den Beinen entlang. Der bunte Kater heißt Sofus, der Weise. Ninjas Tochter Janina hat ihn aus dem Tierheim geholt, zunächst ein scheues Tier, das nur langsam Zutrauen fasste. Die Katze scheint einen Moment die bewegliche Landkarte der Regentropfen auf dem Fenster zu studieren, dann leckt das Tier eine Pfote, schaut kurz zu und verschwindet lautlos.
»Als Du Deinen Brief geschickt hast« , schreibt der Vater am 22. August 1948 an die Tochter, »war es Sommer in Norwegen. Hier war es auch sehr heiß, aber nur wenige Wochen. Sonst hat es viel Regen gegeben. Letzte Woche hatten wir das schlimmste Regenwetter, das ich jemals erlebt habe. Der Keller war voller Wasser, und der kleine See, an dem ich wohne, ist so hoch gestiegen, dass der niedrigste Teil des Gartens vollkommen überschwemmt wurde. Jetzt gibt es übrigens bald Pfirsiche im Garten. Schade, dass ich Dir keine schicken kann, sie würden bestimmt unterwegs verderben. Jetzt fängt wohl bald wieder die Schule an? Ich hoffe, dass Du es nicht zu langweilig findest. Ich sehe an Deinem letzten Brief, dass Du die Schrift schon richtig schön beherrschst. Wenn Du Lust hast, musst Du mir bald wieder schreiben und von der Schule und Deinen Spielen erzählen und von allem, was Du auf dem Herzen hast.
Letztes Jahr um diese Zeit waren wir zusammen in Lillehammer. Ich hätte gewünscht, dass wir auch dieses Jahr eine Woche auf dem Lande hätten verbringen können. Das war aber leider nicht möglich. Hoffentlich wird es nicht so lange dauern, bis ich zu Besuch komme. [ … ] Alles Gute, Ninjachen, mit einer großen Umarmung von Deinem Papa.«
Auf Vaters Schulter: Ninja Frahm und Willy Brandt, Sommer 1946
[Ninja Frahm/privat]
Viele weitere Briefe gehen hin und her, sie blieben im Ton privat, große Politik findet sich kaum. Es geht darum, den anderen am eigenen Alltag teilhaben zu lassen, ein Bild von sich in der Ferne entstehen zu lassen.
»Du kannst machen, was du willst? Ich mache das Mittagessen! Wenn du magst, setz dich ins Wohnzimmer! Schau dich um!«
Im gesamten unteren Wohnbereich findet sich keine Tür. Wohnzimmer, Küche und Esszimmer gehen ineinander über, kein Haus, um sich voreinander zu verstecken. Wenn Ninja oben umhergeht, hört man unten jeden Schritt. Die Decken sind niedrig, die getäfelten Wände und Decken strahlen Wärme aus. Ein großes Sofa, von der Katze an den Seiten zerkratzt, eine Le Corbusier-Liege, ein paar Sessel. Bequemlichkeit, Behaglichkeit. Eine Bücherwand, zurückhaltend, keine intellektuelle Leistungsschau. Auf einer Biedermeier-Kommode, die aus dem Haushalt von Carlota stammt, steht unübersehbar eine bronzefarbene Büste von Willy Brandt. Sie ist von dem bekannten norwegischen Bildhauer Nils Aas gefertigt worden. Mir fremd. Leichte Tendenz zur Heroisierung, Heldengesicht, entschlossen, kraftvoll, hart. Die fließenden, die weichen Gesichtszüge Brandts, hinter denen man ein zweites und drittes Gesicht finden konnte, finde ich hier nicht, Kampfgesicht.
Oben auf dem Buchregal eine kleine Abteilung zu Willy Brandt. Seine eigenen Bücher, das Buch »Andenken« ihres Bruder Lars, Rut Brandts Erinnerungen »Freundesland«. Alles dezent, auch die Büste ordnet sich ein in die Sammlung von Krügen, Vasen, altem Schmuck, Schatullen, silbernen Kästlein. Eine Stereoanlage von Bang & Olufsen, viel Klassik, viel Jazz, Kunstbände. Ein bürgerliches Ambiente.
Ninja geht in der Küche umher. Ich schaue aus dem Fenster. Im nassen Gras liegen feucht schimmernde Äpfel. Der Regen hat nachgelassen.
Sie ist offenbar ein Mensch, der andere lassen, in ihrem So-sein lassen kann. Nein, sie kommt nicht und erklärt nicht, sie drängt sich nicht auf, sie zeigt nicht hier oder da, nein, sie hält sich zurück und räumt mir Eigenzeit ein. Sie misstraut nicht und traut ihrem Urteil, wenn sie es einmal gefunden hat. Sie erscheint mir großzügig und frei von Selbstdarstellung. Sie ist offen für Begegnungen und will wissen, wer ihr da gegenübersitzt und fragt.
Wir setzen uns im kleinen
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