Die Familie Willy Brandt (German Edition)
ich Macht will?‹« Rut Brandt verstand unter Macht eine Form von Gewalt, sie verband damit die Besetzung Norwegens, Macht war für sie eine Art zwischenmenschlicher Finsternis. Dass ihr Mann eine gestaltende Macht meinte, dass er seine politischen Vorstellungen nur durchsetzen konnte, wenn er eine hohe Position innehatte, verstand sie nicht. Sie erkannte wohl auch nicht, dass sich sein Wesenskern diesem Griff nach der Macht schon verschrieben hatte, dass seine gesamte Identität davon abhing, auf diesem Weg voranzukommen. Nur so ließ sich erklären, dass ihn das, was er hatte, so wenig befriedigte.
Als Brandt am 11. Januar 1955 zum Präsidenten des Abgeordnetenhauses gewählt wird, weint Rut. Sie fürchtet sich vor der öffentlichen Rolle, die ihr nun abverlangt wird, sie will nicht repräsentieren, und sie ahnt, dass dieses Amt erst der Beginn seines, ihres Aufstiegs sein wird. »Ich hatte keinerlei Ambitionen ins Rampenlicht zu treten. Ich hatte Angst vor dem Unbekannten.« Ihre Rolle ist bislang klar definiert, sie ist Mutter und Hausfrau und sie ist die Frau, die die Familien zusammenhält. Den Kontakt zu Willy Brandts Mutter und seinem Halbbruder hält vor allem sie, und dann ist da natürlich auch ihre Familie, an der sie in ganz anderem Maße hängt als Willy Brandt an der seinen. Sie pflegt den Kontakt zu ihren drei Schwestern, besucht sie regelmäßig in Norwegen und nimmt auch die Söhne Peter und Lars dorthin mit. Es kommt aber auch vor, dass sie alleine oder nur mit einem Sohn fährt, um ihrer Mutter zu helfen oder auch um eine Auszeit zu nehmen, da ihr die ruppigen deutschen Wahlkämpfe, die ihr Mann durchsteht, psychisch zusetzen. Sie tut sich nicht leicht, in Deutschland anzukommen. Mit ihrem Mann spricht sie zu Hause Norwegisch, und auch mit den Kindern unterhält sie sich zumeist in ihrer Heimatsprache, da sie möchte, dass Norwegen für sie mehr als ein Urlaubsland wird. Noch Anfang der siebziger Jahre wird in der Presse eine Anekdote bekannt, die ihre mangelnde Sprachbeherrschung überliefert. Als Matthias vor Gästen zu Bett geschickt wird, obwohl er doch noch fernsehen will, fernsehen muss, stapft er empört aus dem Wohnzimmer und ruft grollend: »Und Deutsch kann’se auch nicht!«
Zur Sprachbarriere kommt ein Gefühl der Beklommenheit hinzu, weil sie ausgerechnet in dem Land lebt, das so viel Unheil und Unglück über Europa gebracht hat. Als sie Mitte der fünfziger Jahre einmal im Kino einen Dokumentarfilm über den Holocaust sieht, erleidet sie einen Weinkrampf, der kein Ende nehmen will. Später, als Frau des Regierenden Bürgermeisters, besucht sie regelmäßig Berlins jüdisches Altersheim, in dem überwiegend Frauen wohnen, die das KZ Theresienstadt überlebt haben. Es sind in der Regel private Besuche ohne Fotografen. Sie hat überhaupt eine Abneigung gegen das Protokoll, und sie hat nahezu panische Angst, dass man ihr irgendwo eine Rede abverlangen könne. Als man sie einmal beim Sommerfest einer Kleingartenkolonie überrumpelt und sich eine kleine Ansprache erbittet, verheddert sie sich fürchterlich, ehe sie beschämt verstummt. Daher lässt sie die Gastgeber einer Veranstaltung regelmäßig vorwarnen, dass sie auf keinen Fall das Wort ergreifen werde. Erst wenn ihr das hoch und heilig versprochen wird, sagt sie ihre Teilnahme zu. Noch im hohen Alter erwähnt sie bei einem Fernsehinterview nicht ohne Stolz, sie habe es geschafft, durchs Leben zu kommen, ohne eine einzige Rede gehalten zu haben.
Was ihrem Leben in Deutschland Halt gibt und ihr langsam das Land öffnet, sind ihre beiden Söhne Peter und Lars, die im Marinesteig zu waschechten Berlinern werden. Sie stromern durch die Gärten und Büsche, machen die Straße unsicher, toben mit den vielen Nachbarskindern herum, sie machen das, was alle Kinder machen, die eine überwiegend unbeschwerte Jugend haben. Dass ihr Vater wenig zu Hause ist, unterscheidet ihn in dieser Zeit noch nicht in auffälliger Weise von anderen Vätern, die in den Wirtschaftswunderjahren ihrer Karriere nachjagen. Da aber auch Rut Brandt oft verreist, finden die Kinder vor allem bei der gemütvollen Haushälterin Martha Litzl Halt und Geborgenheit. Die Kinder nennen sie nur Litti. »Meine Mutter«, erzählt Peter Brandt, »war mitunter ganz verzweifelt, das hat sie mir später erzählt, weil Litti immer auf unserer Seite stand. Wenn meine Mutter einmal streng sein wollte, hat Litti das mit ihrer Gutmütigkeit und ihrer unendlichen Geduld sofort wieder
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