Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Wesensveränderungen und Persönlichkeitsprozesse, die er für sich selbst diagnostizierte, der zwischen seiner Familie in München und Bonn pendelte, können auch für Brandts Hin und Her zwischen Berlin und Bonn aufschlussreich sein. Lattmann, der Brandt ziemlich gut kennenlernte und einen wachen Blick für dessen Abgründe entwickelte, schreibt in seinem Buch »Die lieblose Republik« über die Deformationen des Berufspolitikers: »Wo gibt es einen Berufspolitiker, der nicht seinen nächsten Menschen auf unheimlich wirksame Weise misshandelt, nämlich durch Entzug seiner Gegenwart? […] Es ist mehr als nur Vernachlässigung, in der Regel wird das Aussteigen aus dem Persönlichsten daraus, wider Willen und doch nicht von ungefähr. Wieweit liegt diesem Handeln zugrunde, dass man nichts anderes mehr mit sich anzufangen weiß? Wie weit geht der Selbstbetrug durch Aktionismus? Was ist Ausflucht und was das eigentliche Ziel hinter den vorgegeben Gründen? Es muss nicht so sein, aber es ereignet sich so und wiederholt sich immerzu, dass man in der Politik untertaucht und bald nicht mehr auffindbar ist, weder für andere noch für sich. Eine Hohlkörperexistenz mit perfekter Schminke. Abrufbare Floskeln ausstreuend. Ein Statementautomat. Ich beobachte das bei anderen wie bei mir.«
Brandt hätte dieser Diagnose vermutlich einiges abgewinnen können, aber in seinen Büchern findet man derartige Selbstzergliederung nur ansatzweise. Das hätte auch ein zu großes Fragezeichen hinter seine Existenz gesetzt, denn er betrachtete das, was er tat, nicht als spielerische Wahl, zu der es zahlreiche Alternativen gäbe, sondern als Berufung und Auftrag. War es in der jungen und sich selbst suchenden Republik nicht geradezu eine Pflicht, seine Talente rücksichtslos für sein Land einzusetzen, wenn das zugleich als gelungenste Entwicklung der eigenen Persönlichkeit begriffen werden konnte? Musste nicht auch die Familie verstehen, dass ein größerer Schaden entstünde, wenn man diesem Ruf nicht folgen würde? Schließlich war er ja auch ein im Stich Gelassener, der sich in seiner Spagat-Existenz zwischen Bonn und Berlin aufrieb und seinen Kopf allein auf ein stickiges Kissen in einem karg möblierten Zimmer legte. Da ging man lieber spät zu Bett, trieb sich in den paar Bonner Weinstuben und Kneipen herum, Obdachlosenasyle für Abgeordnete aus sämtlichen Provinzen, da trank man sich die Perspektive schön, die Stimmung heimelig, da suchte man Anschluss und Geselligkeit und fand das, was Männer immer finden, wenn sie einsam sind, wenn sie melancholisch blicken und darüber hinaus keineswegs abscheulich aussehen, man fand eine Frau, mit der man der Tristesse der bescheidenen Zimmer entfloh, mit der man den Pflichtwelten entkam und in ein prickelndes Gegenleben abtauchte. Dieses Existenzmodell – fremdgehen, um sich nicht mehr fremd zu fühlen – lebten viele Abgeordnete, und so bildete sich ein parteiübergreifender Konsens, sich als heimatvertrieben zu betrachten und sich gegenseitig zuzubilligen, im zugigen Bonn Fernwärme und tröstende Worte zu suchen.
Willy Brandt verliebt sich in Susanne Sievers. Es ist keine flüchtige Liebelei, keine einsilbig hastige Affäre. Die attraktive, rothaarige Susanne Sievers aus Köln ist sieben Jahre jünger als Willy Brandt und hat bislang als Sekretärin im Bundestag gearbeitet. Sie ist eine Frau, die auffällt, weil sie kein stummes Akten-Fräulein bleibt, sondern selbst das Wort ergreift und eigenständig arbeiten will. Sie wird Redaktionsassistentin der »Westfälischen Rundschau« und gibt bald den florierenden Bonner Informations-Brief (BIB) heraus, der Hintergrundinformationen aus Politik und Wirtschaft verspricht. Sie ist eine Frau, die zu Gefallen weiß und der es leichtfällt, Informationen zu sammeln, eine immer wichtiger werdende Ware im Nachrichtenzeitalter. Brandt fühlt sich zu der selbstbewussten Frau hingezogen und öffnet sich ihr gegenüber mehr, als er eigentlich beabsichtigt. Seine Beziehung zu ihr beginnt just in den Monaten, in denen Rut mit ihrem zweiten Kind schwanger ist. Man kann nur vermuten, dass sich Brandt deswegen mehr als einmal Vorwürfe gemacht haben wird. Doch die anfänglich lose Verbindung wird immer verbindlicher. Das Paar trifft sich im Bonner Gasthaus »Adler«, man geht zusammen ins Kino, unternimmt Ausflüge ins nahe Siebengebirge, man findet Kosenamen füreinander, Brandt nennt sie »Puma«, und er ist ihr »Bär«, Susanne holt ihn mit ihrem
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