Die Familie Willy Brandt (German Edition)
hinter dicken Glas!«
»Sie meinen Brille?«
»Jenau!«
Eine andere Frau, sie war ein Nachbarskind, hat bis heute den Satz ihrer Mutter im Ohr: »Frau Brandt, das ist eine ganz vornehme Frau!« Bei einem Besuch im Haus der Brandts zählt das Kind die Kleider von Rut Brandt. Es waren 32. »Sind wir arm?«, fragte sie ihren Vater abends. »Wie kommst darauf?« – »Na ja, weil Mutti nur acht Kleider hat und Frau Brandt hat so viele!«
Ein früherer Polizist meldete sich. Er habe vor dem Haus des Bürgermeisters Wache gestanden. »Bisweilen kam Herr Brandt nachts angetrunken nach Hause. Sein Fahrer und ich mussten ihn dann ins Haus bringen. Dann setzten wir ihn auf einen Sessel, wo er sofort einschlief.«
Im Keller des Hauses mit der Nummer 2 hat sich ein Wandbild erhalten. Es zeigt Schneewittchen und die sieben Zwerge. Man erzählt mir, Frau Brandt habe es eigenhändig mit den Kindern aus der Siedlung gemalt. Ein Mythos des Ortes? Peter Brandt und Ninja Frahm können sich an dieses Bild nicht erinnern, aber sie räumen ein, dass die Erinnerung trügerisch ist.
Wer ist Schneewittchen eigentlich? Eine Frau auf der Flucht. Eine Frau, die ein Haus aufräumt. Eine Frau, die sich unentbehrlich macht. Eine Frau, die von einer Neiderin vergiftet wird. Eine Frau, die in einem gläsernen Sarg liegt und von allen bestaunt wird. Tot und doch so schön! Schön und doch so tot! Da stolpern die Zwerge über einen Ast.
Schneewittchen schlägt die Augen auf.
Martha
Alles andere kann ich später noch erzählen.
Martha Litzl, geborene Mielke, kam 1909 in Lippehne in der Neumark zur Welt, wo ihr Vater August einen kleinen Bauernhof besaß. Die alte Lindenstadt lag idyllisch zwischen zwei Seen. Die »Ökonomische Encyklopädie« aus dem 18. Jahrhundert weiß, dass die Wiesen der Stadt sehr »ansehnlich« waren, weshalb die Bevölkerung überwiegend von Ackerbau, Viehzucht und Fischerei lebte. Hat das Städtchen, das heute in Polen liegt, sonst etwas Ruhmvolles vorzuweisen? Das Lippehner Trinkrecht galt seit dem 15. Jahrhundert, zeitweilig gab es 87 Bier-Braustellen. Und sonst? Der spätere Reichskanzler Bismarck rettete hier als junger Leutnant seinem unvorsichtigen Reitknecht Hildebrandt das Leben, als der am Ertrinken war, aber das Denkmal, das man ihm später dafür errichtete, musste 1945 weichen, als die polnischen Behörden die Verwaltung des Gebiets übernahmen. Verschwinden musste auch die deutsche Bevölkerung, sie wurde bei Kriegsende vertrieben, soweit sie nicht bereits vorher vor den heranrückenden russischen Truppen geflohen war. Zu denen, die gen Westen flüchteten, gehörte Martha Litzl. Ihr Mann war im Krieg gefallen, die kurze Ehe kinderlos geblieben. Es gelang Martha, eines der Pferde vor einen Karren zu spannen, ein paar Habseligkeiten zusammenzuraffen und ihre nahezu ohnmächtige Mutter neben sich zu setzen. So reihten sie sich bei bitterer Kälte in den Strom der Flüchtlinge ein. Doch die Mutter war bereits zu geschwächt, sie starb in den Armen ihrer Tochter. Martha Litzl musste sie am Wegesrand begraben, es blieb keine Zeit zum Abschiednehmen. Martha schlug sich nach Berlin durch, fand Arbeit als Hausmädchen bei einer amerikanischen Offiziersfamilie. Sie stand auf mächtigen Beinen, schnell ließ sie sich nicht umwerfen.
Der ewige Sehnsuchtsort für Brandts Haushälterin Martha Litzl: Lippehne
[Torsten Körner/privat]
Als die Brandts nach Peters Geburt ein Hausmädchen suchen, geben sie eine Annonce auf. Die Bewerberinnen stehen vor dem Haus in der Trabener Straße am Halensee Schlange, doch die Wahl ist schnell getroffen. Als Martha Litzl schwer atmend zur Tür hereinkommt, legt sich Pudeldame Blackie sofort zu ihren Füßen und bleibt dort mucksmäuschenstill liegen. So hat Rut Brandt in ihrem Buch »Freundesland« erzählt, wie Martha Litzl das Leben der Brandts betrat. Sie widmet ihr vier volle Seiten, nicht eben wenig, wenn man bedenkt, wen Rut Brandt in ihrem Leben alles kennengelernt hat. Diese vier Seiten gehören für mich zu den schönsten Abschnitten in ihren Erinnerungen. Rut Brandt schildert Martha Litzl sehr lebensnah, die Passage ist sehr dicht gewebt, viele kleine Erinnerungsstücke fügen sich zu einem pulsierenden Bild. Martha Litzl wird lebendig auf dem Papier. Tritt heraus. Und durch den Blick auf ihre Haushälterin lernt man Rut Brandt kennen. Sie zeigt Empathie, sie würdigt die Verdienste ihrer Haushälterin, sie macht das ohne Gnadenton, ohne sich schmunzelnd von ihrer
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