Die Familie Willy Brandt (German Edition)
einzufühlen weiß, hinter abstrakten Formulierungen, denen die Sinnlichkeit ausgetrieben ist, verbirgt. Ein »feststofflicher Gegenpol?« Also jemand, an dem man sich festhalten, reiben konnte? Das »Gas elterlicher Präsenz«? Also etwas, das man nicht zu fassen bekommt, das sich entzieht, verflüchtigt, aber dennoch alles durchdringt? So lese ich dieses Gegensatzpaar. Die füllige, wärmende, Fürsorge spendende Martha, die stets anwesende, in Gerüche, Düfte, Geräusche und Tätigkeiten aller Art eingehüllte Haushälterin – und dagegen das Elternpaar, das sich den kindlichen Bedürftigkeiten oft entzieht, das durch eine unsichtbare Regie abkommandiert wird, zu rätselhaften Reisen oder Begegnungen aufbricht und in steter Abrufbereitschaft steht. Es ist Lars Brandts eigene Art, das, was er liebt, besonders präzise fassen zu wollen. Sein Blick schneidet, er präpariert, so kommt er dem Vergangenen nah. Es ist ein kühler Weg, ein kühles Tasten, das aber nicht verbergen kann, dass das Eingedenken Wärmeschuld abträgt. Der Autor fürchtet sich davor, sentimental zu werden, weil das seinen Stil zerfrisst. Das echte Gefühl, das Lars Brandt zwischen den Worten und Zeilen sucht, lässt sich nur gewinnen, wenn man seinen Stift nicht vorsätzlich in Tränengebiete abtreiben lässt. Seine Nadel der Erinnerung tastet die Rillen des schwarzen Albums »Es war einmal« knisternd ab. Cool-Jazz. Bei einer Lesung in Gauting versagt ihm die Stimme, als er die Stelle über Martha Litzl liest. Er muss unterbrechen, etwas trinken, sich sammeln. Eine Journalistin der »Süddeutschen Zeitung«, die die Szene beobachtet, meint, eine Träne in seinem Augenwinkel entdeckt zu haben. Eine Zuhörerin vermisst im anschließenden Gespräch mit dem Autor »Gefühl«. Lars Brandt antwortet: »Wenn Sie das so empfinden, haben Sie für sich recht.« Der Versuch einer Deutung: Lars Brandt verweist in seiner Erwiderung auf die Individualität des Empfindens. Seine Zuhörerin vermisst in seinem Buch Gefühl, weil sie sich nicht auf seine literarische Verschlüsselung von Gefühl einlassen kann. Dass da zu wenig Gefühl sei, auch in Hinblick auf Martha Litzl, kann ich nicht sehen, aber doch eine große Vorsicht, die eigene Emotionalität auf einen frei zugänglichen Marktplatz zu tragen. Der Autor ist kein Mann, der zu wenig Gefühle zeigt oder sie sprachlich nicht gestaltet, sondern er ist vermutlich, wie sein Vater, von einem Übermaß an Gefühl erfüllt, für das er einen ihm gemäßen Ausdruck suchen muss. Wenn es zwischen dem Buch von Lars Brandt und seiner Mutter Rut überhaupt einen Berührungspunkt gibt, dann in den Passagen über Martha Litzl.
Die Haushälterin wird von allen Brandts als betont unsentimentale Frau beschrieben. Wenn jemand in der Siedlung gestorben war, konnte es passieren, dass Martha Litzl sich auf den Weg zum Trauerhaus machte, klingelte und dann ungeniert die Todesursache erfragte. Über ihre familiären Verluste sprach sie wenig. Aber sie schwärmte oft von Lippehne, träumte davon, ihre Heimat noch einmal zu besuchen. Sie besuchte regelmäßig die Treffen der Vertriebenen. Wie Martha Litzl denn die Ostpolitik seines Vaters beurteilt habe, frage ich Peter Brandt. Musste sie das nicht ablehnen, weil die faktische Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ihre Heimat unwiderruflich verlorengab? »Nein«, erwidert Peter Brandt, »auch da war sie ganz unsentimental. Was weg ist, ist weg. Meinen Vater hat sie unheimlich verehrt. Sie sagte oft zu mir: ›Wenn du mal groß bist, dann arbeitest du auch so viel wie dein Vater.‹ Manchmal, wenn sie morgens um fünf Uhr aufstand, klapperte im Arbeitszimmer meine Vaters noch immer die Schreibmaschine, und das flößte ihr die größte Hochachtung ein.«
»Und was bedeutete Martha Litzl für Sie persönlich? War sie Ersatzmutter, Tante, Großmutter?«
»Für uns Kinder war sie eine ganz wichtige Bezugsperson. Für jeden auf seine Weise. Ich weiß nicht warum, das ist so ein spontanes Gefühl, für Lars war sie vielleicht noch wichtiger als für mich. Sie war ja so ein ganz anderer Typ als meine Mutter, die eine herzliche und liebevolle Frau war, die aber auch eine andere Seite haben und sehr distanziert und ein bisschen unnahbar sein konnte. Bei Litti gab es so etwas nicht, die war immer nahbar, greifbar. Meine Mutter hat mir erzählt, ich selbst erinnere es nicht mehr, ich hätte als kleines Kind buchstäblich unter Littis Rock gestanden. Ja, das klingt wie bei Günter Grass,
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