Die Familie Willy Brandt (German Edition)
aber so ist es wohl gewesen.«
Eine Woche nach seinem Bruder Peter besucht mich Matthias Brandt. Es ist ein schöner Spätsommertag. Er ist mit dem Fahrrad gekommen. Er ist gut gelaunt. Er nimmt auf demselben Stuhl wie sein Bruder Platz.
Immer fleißig: Martha Litzl im Garten in Norwegen
[Matthias Brandt/privat]
»Welche Erinnerungen haben Sie an Martha Litzl?«
»Ich habe viele, starke Erinnerungen an Martha Litzl. Sie ist eine wichtige, sehr wichtige Person für mich. Meine Brüder werden Ihnen das sicher bestätigen. Sie war für mich eine Art Großmutter-Ersatz, denn die Lübecker Großmutter starb 1969, und an sie habe ich nur noch verschwommene Erinnerungen. Martha Litzl, Litti wie wir sie nannten, führte unseren Haushalt die ganzen fünfziger Jahre hindurch. Nachdem wir nach Bonn umgezogen waren, kam sie ein- oder zweimal im Jahr und blieb jeweils ein oder auch zwei Monate, zum Schrecken aller dortigen Hausangestellten, denn sie hatte sehr präzise Vorstellungen. Sie hat sich unserer Familie sehr zugehörig gefühlt, und das bestimmt zu Recht. Für mich hat sie gefühlsmäßig eine wichtige Rolle gespielt, denn sie hatte, was uns Kinder anging, keine ausgeprägten pädagogischen Ambitionen. Man wurde von ihrem Liebesschwall überschüttet, was für ein Kind einfach ein tolles Erlebnis ist. Natürlich braucht ein Kind eine gewisse Richtung, die ihm vorgegeben wird, aber wenn es auch noch einen Menschen gibt wie Litti, der völlig bedingungslos alles toll findet, was man macht, und der grundsätzlich sich auf deine Seite stellt, wenn es Auseinandersetzungen mit anderen gibt, und der immer findet, dass du im Recht bist und die anderen unrecht haben, dann kann das schon eine tolle Wirkung haben. Ich denke, da ist das Stichwort ›Bedingungslosigkeit‹. Sie ist deshalb so wichtig für mich, weil ich durch sie eine bedingungslose Zuneigung erlebt habe – oder sagen wir besser Liebe, das ist wahrscheinlich richtiger. Ich glaube, dass das stark prägt.«
»Blieb denn der Kontakt zu ihr bestehen, nachdem Sie nach Bonn gezogen waren?«
»Ja! Abgesehen davon, dass sie uns in Bonn besuchte, besuchte ich sie auch in Berlin.«
»Allein?«
»Ja!«
Unvermittelt zückt Matthias Brandt sein Smartphone, wischt über zwei, drei Icons, und schon höre ich die Beatles: »Komm, gib mir deine Hand«, die deutsche Version.
»Das war die erste Single, die ich mir gekauft habe, da muss ich vier oder fünf Jahre alt gewesen sein. Die habe ich zusammen mit Litti gekauft, sie musste mit mir nach Steglitz zur Schlossstraße fahren. Das war großartig, und die Beatles spielen bis heute eine wichtige Rolle für mich.«
»Wie alt waren Sie, als Sie von Bonn nach Berlin flogen, um Martha Litzl zu besuchen?«
»So 7 oder 8?«
»Und wie lange? Zwei Tage?«
»Nein, eine Woche oder zehn Tage immer! Ich bin zweimal im Jahr zu ihr gefahren oder besser geflogen. Ich bekam so ein Ding, so eine Art Ausweis um den Hals und landete dann in Tempelhof, wo sie schon auf mich wartete. Und dann fuhren wir mit dem Bus zu ihr nach Steglitz. Die Besuche bei ihr erinnere ich als den Inbegriff des Luxus. Ich fand ihre Ein-Zimmer-Wohnung auch viel attraktiver als unsere Villa auf dem Venusberg. Kinder haben ja was übrig für dieses Höhlenartige, für dieses ganz andere Leben. Durch die Besuche bei ihr blieb ich Berlin verbunden.«
»Ihre Mutter hat in ihrem Buch geschrieben, der Tod von Martha Litzl sei die erste große Trauer ihrer Kinder gewesen. Erinnern Sie das?«
»Ich muss etwa 13 oder 14 gewesen sein?«
»Sie starb 1975 …«
»Rückblickend betrachtet habe ich wohl nahezu traumatisiert reagiert, denn ich habe ihren Tod überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Meine Mutter, die zu ihrer Beerdigung flog, hat es mir gesagt, aber es hat Jahre gedauert, bis mir wirklich klargeworden ist, dass sie nicht mehr lebt. Insofern muss das ein sehr großer Schmerz gewesen sein.«
Warum Martha Litzl in die Nervenheilanstalt kam, weiß keiner der Brandts mehr genau. Lars mutmaßt in seinem Buch, sie sei vom »Verlust ihres Lebens« überwältigt worden und zusammengebrochen. Seine Mutter, erinnert sich Peter Brandt, habe sich sehr dafür eingesetzt, dass Martha Litzl rasch entlassen wird, was ihr diese wiederum nie vergessen habe, da sie fürchtete, für immer in der Anstalt bleiben zu müssen.
Martha Litzl blieb den Brandts ihr ganzes Leben lang ergeben. Ursula Schurig, die von 1958 bis 1961 als Hausmädchen
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