Die Familie Willy Brandt (German Edition)
intime Korrespondenz an CSU-Kreise verkauft. Diese Affäre wird die Familie Brandt in unheilvoller Weise einholen, denn als Brandt 1961 das erste Mal als Kanzlerkandidat für die SPD antritt, werden die Briefe öffentlich.
Es sind schwierige Jahre für Rut Brandt. Ihr Mann lässt sie kaum teilhaben an den politischen Kämpfen, die er in Berlin und Bonn zu bestehen hat, er verschanzt sich, wird schweigsam. Lieber schreibt er ihr Briefe von unterwegs, um sie auf dem Laufenden zu halten, aber wenn man diese Briefe liest, hat man den Eindruck, hier rapportiert einer nur pflichtschuldig sein enormes Programm. Es wird sehr viel äußere Bewegung abgebildet, Termine, flüchtige Eindrücke, an der Oberfläche verharrende Schilderung von Begegnungen und Reisen. Einen intimen Einblick in seine Gefühlswelten sucht man in dieser Korrespondenz meist vergebens. Dennoch spürt man Brandts Bemühen, sich mitzuteilen, an der Beziehung zu »arbeiten«. Ihm fällt es leichter, drei oder vier Seiten Brief aus sich herauszudrücken als zwei oder drei wirklich intime Sätze im persönlichen Gespräch zu finden. Brandt weiß, dass er seine Ehe und seine Familie nur durch einen lebendigen Dialog zusammen und aufrechterhält, aber ihm gelingt es kaum, die politische Arena zu verlassen, um den familiären Bezirk zu betreten. Das Politische, all die damit verbundenen Manöver, Sprech- und Verhaltensweisen formen den Mann und zerren an seinem ohnehin schwach ausgeprägten Familienbewusstsein. Umgekehrt wird Rut, die bislang eine ganz und gar private Person war, plötzlich mit den Herausforderungen der öffentlichen Existenz konfrontiert. Als Frau des Parlamentspräsidenten und bald als Gemahlin des Regierenden Bürgermeisters wird sie unversehens zu einer Repräsentantin, zu einer »Vorzeigefrau«, die gezwungen wird, das Private abzustreifen, um als strahlende Zuversichtsdarstellerin ihrem Mann den Rücken zu stärken. Was Politikern geläufig ist, muss sie sich erwerben: eine Maske aufsetzen für das gefräßige Auge Öffentlichkeit, ganz gleich, wie es in ihr aussieht. Dass ihr Mann in Bonn in die Fremde geht, bleibt ihr nicht verborgen, aber es wird zwischen den Eheleuten nicht thematisiert. Die Familie beginnt, zur Zielscheibe zu werden, und die Postzustellerin bringt jetzt immer öfter Briefe, in denen Brandt als »vaterlandsloser Geselle« beschimpft wird. Das ist noch einer der harmloseren Ausdrücke. Diesen denunziatorischen Energien werden sich die Brandts ein Leben lang ausgesetzt sehen. Als ich den Nachlass von Rut Brandt sichte, fällt mir auf, dass sie einige dieser Briefe aufbewahrt hat. Warum? Um bei sich und anderen die Erinnerung wachzuhalten, wie niederträchtig der Mensch sein kann? Weil es sonst kaum zu glauben wäre, in was für absurden Denkweisen sich Menschen einrichten? Nachdem Rut Brandt im Herbst 1981 im »Kölner Treff« aufgetreten ist, erreicht sie einige Zuschauerpost. Sie hat sich große Sympathien erworben mit ihrer herzlich-fröhlichen Art. Doch es finden sich auch Briefe in einer anderen Tonlage. Da schreibt »ein besorgter Bürger in Deutschland«, der Rut Brandt eigentlich ganz nett findet, wie er versichert, der aber dennoch glaubt, ihr Vorwürfe machen zu müssen: »Aber wie konnten Sie nur diesen Brandt, schon als uneheliches Kind und mit einer solchen Herkunft, heiraten? Dieser Feigling riss im 2. Weltkrieg aus, anstatt zu helfen, uns die Nazis vom Hals zu halten, und um dann noch in einer fremden Nation, so einen Soldaten zu spielen.«
Wie rekonstruiert man ein Zeitbild? Wie erweckt man einen verschwundenen Ort zum Leben? Ja, die Gedenktafel im Marinesteig bezeugt, dass Willy Brandt dort lebte, aber auf Gedenktafeln findet man dürre Daten, kein Ich und kein Du, von der Familie kein Wort. Orte sind flüchtige Räume, die aus mehr als Stein, Straße, Baum und Haus bestehen. Wie kann man die Gegenwart transparent machen, so dass durchscheint, was auch einmal war und sich hier zu Hause und lebendig fühlte?
Ich bat den »Tagesspiegel« um Hilfe. Ein Aufruf erschien. Nur wenige Zeilen. Zeitzeugen gesucht! Wer erinnert sich an die Familie Brandt im Marinesteig? Tatsächlich klingelte bald das Telefon, und es erreichten mich einige Mails und Briefe. Ein Taxifahrer wusste zu berichten, dass er Rut Brandt in den fünfziger Jahren immer zum nahen Wochenmarkt gefahren habe.
»Erinnern Sie etwas Bestimmtes?«
»Frau Brandt is’ so ’ne Fröhliche jewesen. Und uff’n Rücksitz saßen die Jungs, beede
Weitere Kostenlose Bücher