Die Familie Willy Brandt (German Edition)
mit einem anderen Brief, der in diesen Tagen geschrieben wurde, erweist sich Peter als fürsorglicher Fassadenkünstler, der seiner Mutter, die er liebt, das Leben nicht unnötig schwermachen will. Pohlands Idee war, dass er neben dem Film- und Kabarett-Star Wolfgang Neuss und einigen anderen professionellen Schauspielern wie Michael Hinz oder Ingrid van Bergen ausnahmslos mit Laien arbeitete, die die Gymnasialklasse des Helden Mahlke darzustellen hatten. Ausgewählt wurden zumeist Freunde von Peter, Klassenkameraden von der Schadowschule und der Arndtschule, die Mehrzahl von ihnen war auch in der Zehlendorfer Falkengruppe aktiv, also eine »echte« Clique aus dem »echten« wahren Leben. Pohland suchte, wollte die Echtheit, da eiferte er den Einflüssen der Nouvelle Vague nach. Zwei Tage nachdem Peter an seine Mutter geschrieben hat, greift der Schulkamerad Wolfgang Zeller zum Kugelschreiber und liefert Maria Jänicke, Mitschülerin und Pfarrerstochter aus Dahlem – sie wird später Peter Brandts erste feste Freundin –, einen ganz anderen Bericht ab. Er schreibt am 10. Juli 1966: »Inzwischen hat sich herausgestellt, daß wir zu allem Möglichen hier sind, außer dazu, einen Film zu drehen, jedenfalls so, wie man sich so etwas landläufig vorstellt. Gewöhnlich ist ja da ein Drehbuch, das jeder Schauspieler hat oder zumindest kennt. Nun kennen nicht nur wir das Drehbuch nicht, auch Pohland selber hat wahrscheinlich keine Ahnung davon. Nachts sitzt er dann mit wenigen Vertrauten beim Kerzenschein da und überlegt, was denn nächste Woche zu drehen sei. Das Ganze hat sich noch etwas geändert, da Peter anfangs mit Verdacht auf Blinddarmentzündung ins Krankenhaus kam, sich aber herausstellte, daß er eine Art Gelbsucht hat, aber nicht so eine gewöhnliche, sondern eine ganz neue Sorte, über die man nicht so genau Bescheid weiß. Er steht nun unter strenger Diät, spielt erst von der Sache mit dem Arbeitsdienst an, bis dahin muß Lars weitermachen, seine Szenen werden aber vorgezogen [ … ] . Nun muß das Drehbuch teilweise auf Lars umgeschrieben werden, der ja doch ein ganz anderer Typ als Peter ist.« Wolfgang Zeller schließt seinen Brief, der noch detaillierter das Tohuwabohu beschreibt, mit dem verschwörerischen Postskriptum: »P. S. Die Sache mit Peter behalte möglichst für Dich, es dürfen unsere Eltern keinesfalls Wind davon bekommen, daß hier etwas nicht so ganz läuft.« Die Eltern bekamen keinen Wind, denn sonst hätten sie sicherlich interveniert. Während Peter mit zehn polnischen Männern, die ihn für einen Seemann hielten, in einem bröckelnden Krankensaal lag, musste Pohland den gesamten Drehplan ändern und das Drehbuch anpassen, weil Lars, der den jüngeren Mahlke und damit den eigentlich kleinen Teil spielen sollte, für den indisponierten Bruder einspringen musste.
Die Erinnerung geht krumme Wege. Von den acht Berliner »Jungens«, die damals nach Polen gefahren waren, leben noch sieben. Klaus Langeheinecke, zeitweilig Peters bester Freund, starb früh an Krebs. Jeder von ihnen trägt einen anderen Erinnerungsroman nach Hause. Das Wort »Chaos« benutzen einige, andere nicht, einig sind sich alle, dass es bewegte Wochen waren. Phasen aufgekratzter Zappeligkeit lösten sich ab mit solchen bleierner Langeweile. Filmgeschäft eben. Warten, dass man drankommt. Leben sie in Danzig als Dreiklassengesellschaft? Während der Star Wolfgang Neuss, der den sich erinnernden Erzähler Pilenz spielte, im Zoppoter Grand Hotel wohnte, ein majestätischer Hotelkasten, der an einen luxuriösen, aber in die Jahre gekommenen Ozeandampfer erinnerte, war die Clique in einem kargen Seemannsheim untergebracht, das Spuren deutlichen Siechtums zeigte. Und Pohland hatte sich in der oberen Etage einer Arztvilla einquartiert, wo er auch Peter, nachdem der aus dem Krankenhaus entlassen war, unterbrachte, offenbar um ihn besser im Blick zu haben, um ihn aufzupäppeln, um mit ihm die Rolle vorzubereiten. Die Gefühle setzten Segel. Jungmänner zwischen Pubertät und Adoleszenz auf Reisen? Ohne Eltern? Im Künstlermilieu? Natürlich kamen die Körper, kamen Emotionen ins Spiel. Neuss, allen voran, war außer Rand und Band. Abends schluckte er große Mengen Schlaftabletten, morgens, wenn sein Körper gegen das Licht rebellierte, spülte er Aufputschmittel hinunter. Diätpillen kamen hinzu. Er ohrfeigte Pohland, der ohrfeigte ihn. Neuss floh nach Berlin, kehrte zurück, wanderte eine Woche in die psychiatrische
Weitere Kostenlose Bücher