Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Abteilung eines Krankenhauses, arbeitete weiter.
Die Jungen lebten ihre eigenen Abenteuer. Der siebzehnjährige Peter verliebte sich in die Frau des Aufnahmeleiters, die ihm eine warme Schulter zeigte, Lars entdeckte an sich unvermutet Anziehungskräfte für Grete Neuss, die auch ihn ansehnlich fand, aber von Pohland in höchster Not als menschliches Sedativum für ihren Mann gerufen worden war, der von Beruhigung jedoch nichts wissen wollte, sich stattdessen an drehfreien Tagen zu seiner Geliebten nach Berlin flüchtete oder mit anderen Frauen, die im Hotel seinen Weg kreuzten oder ihn planvoll auf seinem Zimmer heimsuchten, die weite Nacktheit suchte. Peter Brandt ist dennoch kein Anhänger der Chaos-Theorie: »Ich hab die Dreharbeiten nicht als chaotisch erlebt. Pohland behielt die Sache in der Hand, er ließ Neuss toben und überlegte sich, wie er die Situation wieder ins Konstruktive wendet. Natürlich hat Pohland viel einstecken müssen. Wir haben uns schon über die Erwachsenen gewundert, aber wir waren alt genug, um zu verstehen, dass sich erwachsene Menschen nicht unbedingt besser benehmen. Lars hat das spielerischer aufgefasst. Ich fühlte mich in die Pflicht genommen und wollte, bei all den Schwierigkeiten, berechenbar bleiben und Pohland, der mir auch leidtat, die Stange halten.« Zur Atmosphäre dieser Wochen in Danzig gehören auch ein »heimtückischer polnischer Vogelbeer-Wodka«, Zigaretten, Jazz, Beat, ein Tanzclub und die Fußballweltmeisterschaft 1966 in England, bei der der Stern eines gewissen Franz Beckenbauer aufgeht.
Während die Berichte der Augenzeugen den Begriff »Chaos« durchaus differenzieren, sind sich alle in der Schilderung der Brandt-Brüder einig. Beide spillrig, schnell, vielleicht zu schnell in die Höhe geschossen, beide mit im Ostseewind blaugefrorenen Lippen, mager, schmal, hellwach, individualistisch, die Augen durch die schweren Brillen bisweilen verborgen, verloren, versteckt. Peter war – so das einhellige Urteil – der Ernsthaftere, der politisch Interessiertere, derjenige, der selten leichten Herzens war, während der jüngere Lars verspielter auftrat, clownesk bisweilen, eine Lockerheit, die er offenbar auf sein Spiel übertragen konnte. Zumindest schrieb Wolfgang Neuss, kaum war er wieder in Deutschland, einen launig-übellaunigen Drehbericht für die Zeitschrift »Konkret« (September 1966) und attestiert dem jüngeren Brandt: »Lars Brandt scheint mir, nach den ersten Metern, die ich von ›Katz und Maus‹ sah, eine wirkliche Komiker-Entdeckung zu sein. Seine Lehrer werden es nach der Uraufführung des Films noch schwerer mit ihm haben. Der Junge ist ein Naturtalent à la Jerry Lewis, nur seriöser, und man lacht mit besserem Gewissen, aber vielleicht gilt das nur für mich.«
Während Willy Brandt noch seinen Geschäften als Regierender Bürgermeister im Schöneberger Rathaus nachging und seine Söhne in Polen weilten – und das soll im Hinblick auf die spätere Rezeption des Films und seine Bedeutung für die Familie Brandt schon an dieser Stelle eingebracht werden –, verfiel die Autorität des Bundeskanzlers Ludwig Erhard in jenen Wochen dramatisch. Der pyknische Mann mit der Zigarre, dessen ausladende Körperfülle das »Wirtschaftswunder« symbolisierte, agierte immer glückloser; ungeliebt in der eigenen Partei, sah er sich bald mit den ersten Anzeichen einer Wirtschaftskrise konfrontiert, die – von heute aus betrachtet – kaum der Rede wert war, ihn aber im Herbst 1966 als Kanzler stürzen ließ. Dieser Sturz hatte Folgen, für Willy Brandt, seine Familie, den Film.
Aber noch ist es nicht so weit: In Polen, die Sommertage zerren an den Nerven unserer jungen Darsteller. »Haben«, frage ich die Clique, »Sie etwas gespürt von der historischen Last und Bedrückung?« Da, wo sie »Katz und Maus« spielten, da, wo sie in die Zeit des Nationalsozialismus eintauchten und eine Geschichte rund um den höchsten Orden des »Dritten Reiches« belebten, hatte am 1. September 1939 der deutsche »Vernichtungsfeldzug« gegen Polen begonnen, in Danzig, und auf ihn folgte bald der Krieg gegen die Sowjetunion und der Holocaust. Hatten die Gymnasiasten das damals im Blick? Spürten sie Scham? Ressentiments? Erinnerungsverantwortung? Gab es deutsch-polnische Konflikte? Die Antworten fallen unterschiedlich aus. Das sei, sagt einer, so kein Thema gewesen, sie seien eher unbefangen und in dieser Hinsicht unbedarft gewesen, einer habe sogar den polnischen
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