Die Familie Willy Brandt (German Edition)
danken, dass Sie mir während wichtiger Jahre ein kritisch-anregender Gesprächspartner und ein großzügig-duldsamer Weggefährte gewesen sind. Sie haben andere und mich teilnehmen lassen an der Sehweise des Künstlers, an seinem Bemühen, hinter die Dinge zu schauen, die Wahrheit der Dinge zu präsentieren und ihnen, wo nötig, den unechten und lügenhaften Schleier wegzuziehen, der über sie ausgebreitet wird. In Ihrem Wunsch, korrekturbedürftige Verhältnisse zu ändern, ging es Ihnen nicht immer schnell genug, und darin wusste ich mich oft mit Ihnen einig. So haben wir lernen müssen (oder bestätigt bekommen), dass der Fortschritt eine Schnecke ist.« Dieser Brief ist in mancherlei Hinsicht bemerkenswert. Brandt war kein Kunstkenner, kein angeberischer Connaisseur, kein Museums-Pilger, aber er war offen und tolerant gegenüber modernen und experimentellen Sichtweisen. Er nährte gegenüber Kunst, zu der er keinen Zugang fand, kein Ressentiment. Wo er etwas nicht verstand, witterte er nicht gleich Scharlatanerie und wetterte nicht gegen avantgardistische Richtungen.
Der Brief dokumentiert aber auch Brandts besondere Beziehung zu dem Künstler, der sich am längsten und intensivsten bemühte, das Wesen und die Persönlichkeit des Politikers zu erfassen. Anders als der postmoderne Warhol, der Brandt en passant zur Pop-Ikone stilisierte und eine glamouröse Aura der Oberfläche schuf, war Meistermann darauf aus, »hinter die Dinge zu schauen«, dem Menschen hinter die Gesichter und Masken zu blicken, um Charakter- und Machtstrukturen aufzudecken. Kanzleramtsminister Horst Ehmke hatte Meistermann 1969 angeregt, Brandt zu porträtieren, nachdem ihm aufgefallen war, dass kaum vorzeigbare Bilder von sozialdemokratischen Politikern existierten. Meistermann, der 1960 bereits Carlo Schmid porträtiert hatte, griff diese Idee begeistert auf und fand dabei die Unterstützung von Brandts persönlichem Referenten Reinhard Wilke, dem Türhüter des Kanzlers, der entschied, wer einen Termin bei ihm bekam und wer nicht. Und weil der Maler, der im »Dritten Reich« mit Ausstellungsverbot belegt war, für Brandt seit 1952 kein Unbekannter ist, schafft es der kunstbegeisterte Wilke trotz größter Zeitnot, den Maler ins Kanzleramt zu schleusen. Brandt erscheint zur ersten Sitzung mit Akten unter dem Arm, brummig und verschlossen. Ein Podest, das der Maler ihm gezimmert hat, lehnt Brandt zunächst unwirsch ab: »Was soll das?« Meistermann überzeugt ihn, dass er ihn nicht von oben nach unten malen könne.
Brandt nimmt Platz, entzündet sich eine Zigarette und beginnt zu lesen. Unvermittelt nimmt er die Brille ab. »Die stört Sie doch?«
»Aber Sie können doch ohne sie nicht arbeiten?«
»Ich muss nicht immer arbeiten, wir können uns auch unterhalten!«
Brandt ist bereit, sich Meistermann zu zeigen, doch das bedeutet nun keineswegs, dass der Maler ihn zu fassen bekommt.
Nach einigen Sitzungen verzichtet Meistermann darauf, die Leinwand mit ins Kanzleramt zu bringen, stattdessen fertigt er dort nur noch Skizzen an und arbeitet dann in seinem Atelier weiter. Zu Beginn der Arbeit hatte Meistermann gesagt, es habe ihn gereizt, den Kanzler zu porträtieren, weil sich keine fünf Fotos finden ließen, auf denen sich der Mann ähnlich sehe, doch diese Wandelbarkeit, diese unstete Persönlichkeit stellt den Maler vor immer größere Schwierigkeiten. Er beklagt sich bei Reinhard Wilke so manches Mal, wie rätselhaft Brandt sei, wie schwer zu fassen. Es sei ein Kampf, ja ein regelrechter Kampf, ihn auf die Leinwand zu bannen, ein Kampf und ein zähes Ringen, das ihn bis in den Schlaf hinein verfolge. Der Kunsthistoriker Carl Linfert, der den Maler regelmäßig in seinem Atelier besucht, stellt fest, wie eine Farbschicht die nächste ablöst, eine Version die vorangegangene frisst, wie alte Konturen verschwinden, wie »Farbgegenden« sich bilden und vergehen, Zeichen wie Wolken aufziehen und zerfließen, wie immer neue Widerstände und Zweifel aufmarschieren. Zuletzt ist selbst Linfert, der professionelle Beobachter, ganz erschöpft von seinen Beobachtungen und findet, es ist »für mich das seltsamste Porträt der letzten Jahrzehnte«.
Auch Wilke besucht Meistermann während des Entstehungsprozesses in seinem Atelier. Einmal nimmt er auch Lars Brandt mit, der Interesse angemeldet hat, weil er sich selbst als bildender Künstler sucht und bilden will. Deshalb sucht Lars Brandt den Maler später häufiger auf, um mit ihm über
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