Die Familie Willy Brandt (German Edition)
das größere Schutzgebiet einräumen, so werden beide nass. Ich, etwas größer als er, gehe gekrümmt. Ist es so wichtig, was man redet? Geht es unter dem aufgespannten Dach nicht um Schrittverständigung, um Schulterdiplomatie?
Lars gibt den Stadtführer.
»Haben Sie das Bonner Münster besucht? Das sollten Sie machen, es ist von großer Schönheit. Sehen Sie diese Gebäude dort, das Schloss, es ist von Clemens August gebaut worden, ein Wittelsbacher, weshalb Bonn mitunter so aussieht, als läge es in Bayern. Ja, und dort der Teich, ja, jenes ausgebaggerte Schlammloch. Das war früher ein von vielen Fischen bevölkerter Graben, dann wurde es ökologisch saniert, und seither kippt es einmal im Jahr um, die Fische sterben, und dann kommen die Bagger.« Er lacht keckernd.
Es ist das dritte Mal, dass wir uns treffen, und heute geht es leichter, heiterer. Auf einmal stehen wir vor dem Schaufenster einer Buchhandlung in der Kaiserstraße. »Das ist meine Stammbuchhandlung. Das ist eine richtige Achtundsechziger-Buchhandlung, nicht groß, aber gut sortiert.« Er winkt dem Buchhändler, der ihn erkennt, lächelnd zu.
»Gibt es für Sie das Buch der Bücher?«
»Eines ist sicherlich ›Pnin‹ von Nabokov. Das habe ich oft gelesen und jedes Mal lauthals gelacht.«
»Zettels Traum?«
»Arno Schmidt? Da bin ich ambivalent, ich hab nicht alles gelesen, bin kein Schmidtianer und kein Experte für ›Zettels Traum‹. Und immer diese alten Männer, immer diese Sprachmuskelspiele! Vermutlich schaue ich ihn gerade an wie ein frisch Verliebter. Wenn Sie etwas hören wollen, das mir ganz und gar wichtig ist, das mich sehr berührt, Sie fragten danach, dann müssen Sie sich Steve Reich ›Different Trains‹ anhören. Reich fuhr als Kind mit dem Zug zwischen New York und Los Angeles hin und her, weil sich seine Eltern getrennt hatten. Und zur gleichen Zeit fuhren in Europa die Züge in die Konzentrationslager. Diese Züge wären für ihn bestimmt gewesen, wäre er nicht in Amerika aufgewachsen.«
Wir gehen langsam zum Bahnhof.
»Welche Thomas-Mann-Ausgabe besitzen Sie?«
»Eine zwölfbändige Lederausgabe.«
»Hatten Sie grad viel Geld oder einen Gönner?«
»Mein Vater hat sie mir geschenkt, nachdem sie ihm geschenkt worden war.«
Wir schütteln uns die Hände. Ich muss frühere Eindrücke revidieren. Er ist offener, zugangsbereiter. Er fragt, ist an seinem Gegenüber interessiert, der Panzer, der ihn noch bei unserem ersten Treffen umgab, ist verschwunden. Aus dem Regen wird Schnee.
Im Zug. Im Speisewagen. Ich erinnere noch einmal die Begegnung mit seiner Frau. Ich sehe ihr Atelier. Alle Dinge hatten ihren Platz und standen nicht zufällig dort, wo sie standen. Fast alles paarweise und symmetrisch ausgerichtet. Zwei Päckchen Melitta-Filtertüten, zwei Kaffeetassen, zwei Etuis, zwei rot-weiße Dosen Schoka-Ko-La. Die Dinge stehen so nebeneinander, als hielten sie sich umschlungen, als reichten sie einander die Hand. Zwang oder Zärtlichkeit? Zärtlicher Zwang? Nein, hatte sie gesagt, als ich sie auf die Paarbildung der Objekte ansprach, das sei ihr gar nicht aufgefallen, diese Ordnung der Dinge. Schön sieht es aus. Symmetrisch. Da spricht so etwas wie Unumstößlichkeit aus den Objekten, erlöst wirken vom bloßen Konsumartikeldasein.
Wer ist Lars Brandt? Er wird einsilbig, wenn die Sprache auf die Familie kommt. Er hütet seinen Weg. Vielleicht pocht er auch bloß auf die Gegenwart und will von Vergangenheiten nichts wissen, die ihm andere abluchsen oder andichten wollen? Wie war das so als Kanzlersohn, Herr Brandt? Diese Frage läuft ihm nach wie ein treudoofer Hund, den man nicht abschütteln kann. Er gibt wenig preis. Als wir zusammen zu Mittag aßen, das Lokal war nahezu ausgestorben, fiel mir zum wiederholten Male auf, wie er in ein mitreißendes Schweigen versinken kann. Sein Vater hat sich auch oft in diesen Mantel gehüllt. Lars beginnt einen Satz, kommt an eine Gabelung, bleibt stehen und hält inne. Kann er sich nicht entscheiden, in welche Richtung er weitergehen soll?
Ich denke an eine Passage aus seinem Buch über H. C. Artmann. Er lässt seine Interviews mit dem Dichter Revue passieren. Worauf kommt es an, wenn man jemanden beschreibt, wenn man die Welt durchdringen und der eigenen Subjektivität begegnen will? Wenn man eine »reale Sicht auf die Wirklichkeit gewinnen« will? Man müsse, schreibt er, sich klarmachen: »Einzelne Menschen sehen einzelne Menschen.« Ist das sein Programm, sein
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