Die Familie Willy Brandt (German Edition)
fühlt sich bloßgestellt.«
Meistermann hat Brandt nicht entblößt, nicht bloßgestellt, sondern er hat vielmehr den weitverbreiteten Zwang zur Ähnlichkeit entblößt, er hat den trägen Blick bloßgestellt, den es nach sofortiger, eindeutiger und widerspruchsfreier Identifizierung verlangt. Man kann das Bild als psychographisches Bild des Kanzlers und Menschen Brandt lesen, ein Psychogramm in Farbe, das nicht nur etwas über den Porträtierten, sondern ebenso viel über den Maler verrät. Und auch der Betrachter muss sich fragen, warum sich ihm gerade diese und keine anderen Lesarten aufdrängen. Denn dieses offene Bild verlangt geradezu nach assoziativer, nach suchender Befragung. Meistermann, der mit der bedeutenden Psychoanalytikerin Edeltrud Meistermann-Seeger verheiratet war und jahrzehntelang Alexander und Margarete Mitscherlich zu seinen engen Freunden zählte, zeigt Brandt als einen Mann, der sich selbst unähnlich sieht, der die Anlage besitzt, sich zwischen seinen eignen Bildern zu verlieren, dessen Stimmungen wandelbar sind und unberechenbar. Was springt ins Auge? Der schmale, übergroße, dunkle Mund? Das glühende und das erloschene Auge? Die gefährlich steile Bürste Haar? Der Glutpunkt der Zigarette? Die knöcherne Hand? So sieht auf jeden Fall kein gütiger, altersweiser Staatsmann und Landesvater aus. Eher ist hier ein melancholisches Raubtier zu besichtigen, ein Mann, dem Härte ebenso wenig abgeht wie Sinnlichkeit, eine Figur, die vergittert wirkt, eingeschlossen, aber doch auch freischwebend und nicht zu fesseln durch Amt und Würde, vielmehr versteckt und verborgen in wechselnden Farben. Brandt soll sich erfreut gezeigt haben, dass sein linkes Auge so »verschlagen« lauere. Der Politiker, das ist eine Botschaft des Bildes, ist ein gefährdeter, aber auch ein gefährlicher Mann und Mensch, weil er seine Mitmenschen einzusaugen versteht, weil er sie inhaliert, verschlingt durch Verständnis und gleichzeitig reizt, weil er sich ihrem Wunsch nach unbedingtem Einblick entzieht, weil man ihn verstehend nicht zu fassen bekommt, weil er nicht auf einen Nenner, eine Natur und einen Namen zu bringen ist. Brandt bleibt der Verborgene, der Verhüllte, der hinter tausend Bildern seine Wege geht.
Und wer hängt heute im Kanzleramt zu Berlin?
Die Galerie der Bundeskanzler findet man im Foyer vor dem Presse- und Informationssaal. Besuchergruppen lassen sich erklären, warum Gerhard Schröder von Pavianen umtanzt wird und warum Helmut Schmidt von einem DDR-Maler porträtiert wurde.
Dr. Konrad Adenauer blickt überlegen wie aus Jahrhundertfernen.
Prof. Dr. Ludwig Erhard, kraftvoll-knurrig, im lebensabendlichen Heldenglanz.
Dr. Kurt-Georg Kiesinger, Kopfriese, Triumph der angewidert lächelnden Augenbraue.
Willy Brandt, umhüllt von wehmütigen Bilanzen.
Helmut Schmidt, fordernder Machtmensch und Macher.
Dr. Helmut Kohl, fleischleuchtendes Wiedervereinigungsglück.
Gerhard Schröder, steinerne Härte auf Banknotenleinwand.
Sieben Männer.
Siebenmal Ähnlichkeit.
»Nein«, sagt die Pressesprecherin, die mich durchs Kanzleramt führt, »Frau Merkel und das Kabinett kommen hier nicht vorbei. Sie nehmen den Fahrstuhl.«
Allerweltsname
Es war freilich nicht fein, daß er sich mit meinem Namen diesen Spaß erlaubte; denn der Eigenname eines Menschen ist nicht etwa wie ein Mantel, der bloß um ihn her hängt und an dem man allenfalls noch zupfen und zerren kann, sondern ein vollkommen passendes Kleid, ja wie die Haut selbst ihm über und über angewachsen, an der man nicht schaben und schinden darf, ohne ihn selbst zu verletzen.
Goethe: Aus meinem Leben
Den kennt jeder: Herbert Grönemeyers Hit »Currywurst«. Zwei Männer stehen kumpelnd und kauend an der Bratwurstbude, essen eine Currywurst oder auch zwei und spülen mit Bier nach: »Willi, is dat schön,/Wie wir zwei hier stehn/Mit Currywurst.« Proletarische Seligkeit! Willi, das ist der Mann von nebenan, das ist der Mann, dem man auf die Schulter klopfen kann, den man direkt, ohne Umwege und Hürden, ansteuert. Willy, dieser Name steht für volkstümlich dampfende Geselligkeit. Kaum ein Name könnte jedoch stärker in die Irre führen, wenn von ihm auf Willy Brandt und seine Zugänglichkeit, seine Nahbarkeit schließen wollte. Obwohl Brandt aus waschechten proletarischen Verhältnissen kam, umgab ihn eine Aura, die es verbat, ihm nahezutreten, in jeder Beziehung. Egon Bahr hat erzählt, wie Brandt auf seinen ersten vorsichtigen
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