Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Leben?
Ich schlage mein Notizbuch auf und finde einen Satz, den seine Frau im Gespräch mit mir geäußert hatte: »Mich interessieren nur einzelne Leute!«
Einige Wochen darauf sind wir wieder zum Spaziergehen verabredet. Treffpunkt am Beethovendenkmal auf dem Marktplatz in Bonn. Kein Regen diesmal. Er trägt einen kurzen Mantel, Sneaker, auf denen ein grünes Krokodil das Maul aufreißt. Auf dem Weg zum Rhein macht er mich auf einen Bettler aufmerksam, der in der Fußgängerzone sitzt. Vor sich hat er eine abgegriffene Kladde, die er mit einem Kugelschreiber bearbeitet. Wir treten näher, verringern das Tempo. Die Seiten sind mit enger, scharf gestochener Schrift bedeckt, so sitzt er da, jeden Tag und füllt Heft um Heft.
»Vielleicht«, sage ich, »wird das das Buch der Bücher!«
Am Rhein ist es frisch. Der Winter ist gerade gegangen, der Frühling noch nicht ganz da.
Die Beine der Jogger sehen aus wie Streichhölzer, der Fluss macht weiter kein Aufhebens von sich.
»Jetzt haben wir«, sagt er, »einen Weg gefunden, miteinander zu sprechen, auch wenn es anders geworden ist, als Sie es sich vielleicht vorgestellt haben. Nicht so viel Vergangenheit!«
Die Lektion dieses Nachmittags ist leicht zu lernen. Er will sich nicht immer mit Gestern befassen müssen. Will nicht auf den Sohn reduziert und zum Anhängsel einer großen Geschichte werden. Er will selbst in der Landschaft stehen, in seiner Landschaft. Man kommt ihm näher, wenn man ihm seine Ferne lässt.
Ich weiß kaum noch, wie wir auseinandergegangen sind.
Aber wir sind verabredet. Zum Spargelessen.
Farbige Notizen
Ein äußerst komplizierter Mann. Man kann ihn nicht schwarz-weiß malen, auch nicht mit den Farben einer bunten Palette. Brandt hat ganz eigene Farben. Er ist eine Figur, die vor der Geschichte Bestand haben wird.
Carlo Schmid
Oh«, sagt Andy Warhol »er sollte wirklich auf die Politik verzichten und Filmstar werden!« Der New Yorker Pop-Art Künstler greift zur Plastiktüte und zieht eine Polaroid-Kamera hervor. In den Räumen der Bonner Galerie Wünsche herrscht an diesem Februartag 1976 drangvolle Enge. Andy Warhol porträtiert den Bundeskanzler a.D. Willy Brandt, und Bonn ist aus dem Häuschen. Arrangiert hat das Treffen der Galerist Hermann Wünsche, ein Freund des Künstlers. Brandt hatte zugestimmt, nachdem vereinbart worden war, dass ein Porträt auf der Westdeutschen Kunstmesse in Düsseldorf zugunsten von Unicef versteigert werden würde.
Die beiden Stars sind umringt von Fotografen, Kameraleuten und Journalisten. Jetzt – das ist die allgemeine Erwartung – muss etwas ganz Besonderes passieren, etwas Seltenes, etwas Außergewöhnliches, etwas, das den Rahmen sprengt. Die großen Männer machen Smalltalk.
»How long do you stay in Bonn?«
»Tomorrow morning!«
»It’s nice!«
Brandt bleibt würdevoll-ernst. Warhol nestelt an seiner Plastiktüte herum. Man wechselt in den ersten Stock, denn hier, im Erdgeschoss, kann Warhol kaum seine Ellenbogen spreizen. Warhol ist betont nüchtern, sachlich, unpathetisch. Er drückt sechsundzwanzig Mal auf den Auslöser seiner Kamera, sechsundzwanzig Mal springt das Blitzlicht Brandt an, sechsundzwanzig Mal sucht Warhol eine prägnante Pose, sechsundzwanzig Mal surrt ein milchblasser, sich noch entwickelnder Abzug aus dem Apparat. Warhol will nicht ernsthaft wissen, wer der Mann ist. Mit Persönlichkeitsstudien hält er sich nicht auf. Brandt, ganz Staatsmann, sieht sich in der Verständigungspflicht, zumal Warhol einsilbig bleibt.
»You go back to New York tomorrow?«
»No, I will go to Naples.«
»It’s nice!«
Die zwei posieren noch einmal für die Presse, schütteln kurz die Hände, dann ist Warhol wieder weg. Die Journalisten sehen aus wie enttäuschte Kinder.
Sechs Wochen später hat Warhol fünf Porträts fertiggestellt, Siebdrucke in Acryl auf Leinwand. Willy Brandt sieht aus wie Marlene Dietrich oder Elizabeth Taylor. Der Lidschatten, türkis, breit aufgetragen, lässt die dunklen Augen glühen. Der Mund weich, breit, wie mit Lippenstift gemalt. Eine effeminierte Hand hält eine Zigarettenspitze, mondän wirkt das, dandyhaft.
Am 15. Juni 1981 schreibt Willy Brandt an den Kölner Künstler Georg Meistermann, der seinen siebzigsten Geburtstag feiert: »Wir kennen uns nun schon seit vielen Jahren: flüchtig, seit wir einander in den ersten Nachkriegsjahren in Sachen ›Freiheit der Kultur‹ begegneten, intensiver während meiner Bonner Amtsjahre. Ich habe dafür zu
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