Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Journalistin etwa 40 Anekdoten aus seinem Leben niedergelegt hat. Als Brandt hörte, dass Heli Ihlefeld an einer Sammlung von Anekdoten über ihn arbeitet, liefert er ihr aus eigenem Antrieb die Miniaturen. Das Buch erscheint erstmals 1968, und Brandt hat die Druckfahnen penibel durchgesehen, Ergänzungen oder Korrekturen vorgenommen. Als Auskunftsquelle ist dieses Buch daher nicht bloß als heiteres Plauderkästlein, sondern auch als Dokument der Selbsteinschätzung und Selbststilisierung Brandts zu betrachten. Ich werde in einem anderen Kapitel auf dieses Buch und auf das Talent des Politikers, sein öffentliches Bild selbst zu formen, zurückkommen. An dieser Stelle soll genügen, es als Dokument großer Verbundenheit und Nähe zu Heli Ihlefeld einzuschätzen, denn allein das Sammeln und Aufschreiben muss Brandt Zeit und Energie gekostet haben, eine Arbeit, die man nicht für jemanden macht, der einem gleichgültig ist. Bei der Durchsicht der Papiere fällt Heli Ihlefeld unvermittelt ein, dass sie in jenen Jahren im Auftrag eines Verlages auch ein Buch über Rut Brandt geschrieben habe, der das Manuskript dann jedoch nicht veröffentlichen wollte. Wir vereinbaren, dass ich es einsehen kann, wenn wir wieder in Berlin sind.
Die Journalistin lebt in Kreuzberg oder auf Naxos, hier wie dort bietet sie ein »Balance Coaching« an, das weniger ausbalancierten Menschen »Begleitung und Unterstützung auf intellektueller, emotionaler, seelischer und geistiger Ebene« offeriert. Der Beginenhof am Erkelenzdamm ist ein Wohnprojekt für vorwiegend alleinstehende, zumeist ältere Frauen, die ihre Partner oder ihre Partnerin verloren, keinen gesucht oder noch keinen gefunden haben. Mit seinem Namen verweist der Beginenhof auf die mittelalterliche Beginen-Bewegung, in der sich unverheiratete oder verwitwete Frauen, die Beginen, zuerst in Flandern zu klosterähnlichen Lebensgemeinschaften zusammenschlossen und karitativ wirkten. In der modernen Version ist das karitative Element im oftmals unwirtlichen, die Vereinzelung und Vereinsamung befördernden Stadtraum vor allem nach innen, ins Innere des Hauses gewendet. Die Frauen wollen vielleicht allein, aber nicht einsam leben, sie bilden im Idealfall eine kommunikative, fürsorgliche Hausgemeinschaft. Frau muss sich diese säkularisierte Klösterlichkeit leisten können, das architektonisch gehobene Projekt hat einen stolzen Preis, hier ziehen vor allem bürgerliche, gut ausgebildete und finanziell abgesicherte Frauen ein. Die schwere Gittertür öffnet sich lautlos wie in Zeitlupe, eine Kamera beäugt den Eingang.
Heli Ihlefelds Wohnung ist, inmitten des bunten Bezirks – ganz nah die hart-hässliche Betonfratze des Kottbusser Tors und ganz nah die lärmende, entfesselt feiernde Partyjugend auf der Admiralsbrücke –, eine stilvoll eingerichtete Geborgenheitsmuschel (Biedermeier-Möbel, sanftes Licht, Bücher, wärmende Decken, Kunst). Als ich in dem Rut-Brandt-Manuskript blättere, folgt ein weiterer Erinnerungsschub: »Hab ich dir schon diesen Brief gezeigt? Wo hab ich ihn denn? Einen Moment!« Sie übergibt mir den Brief, der Umschlag ohne Briefmarke, also einer, der überbracht und nicht verschickt wurde. Brandt schreibt am 19. April 1971: »Liebe Heli Ihlefeld, anbei finden Sie den Glücksklee, den meine Herren und ich Ihnen eigentlich schon in Riva geben wollten. Mit freundlichen Grüßen Ihr Willy Brandt.« Außer diesen zwei knappen Zeilen hat der Briefschreiber noch ein gefaltetes Blatt eingelegt, das zwei vierblättrige Kleeblätter enthält, ein großes und ein kleines. Sie sind jetzt braun, glatt, todtrocken, erinnern an Tabakblätter. Der Brief hat eine starke, widersprüchliche Aura. Auf dem schweren Briefpapier des Bundeskanzlers, links oben prangt stolz der Bundesadler, darunter in hochamtlicher Herrschaftsschrift »Der Bundeskanzler«, tanzen die handschriftlich-schwarzen Zeilen wie im Schmetterlingsflug. Und lassen sich zwei Glückskleeblätter anders als romantisch lesen? Doch dann wäre es gedrosselte Romantik in offiziöser Obhut, denn die »Herren«, die hier genannt werden, sind die nächsten Mitarbeiter Brandts, die von dieser Liaison wussten, zum Beispiel die Büroleiter Rainhard Wilke, sein Stellvertreter Wolf-Dietrich Schilling, der Leibwächter Ulrich Bauhaus oder der Referent Günther Guillaume. Es ist auffällig, dass Brandt die »Herren« voran- und sich hintanstellt, so als ob die »Herren« in Herzensdingen ein Mitspracherecht hätten, so als
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