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Die Farbe der Gier

Die Farbe der Gier

Titel: Die Farbe der Gier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Farbe der Gier
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ein verlassenes Büro. Die Computerbildschirme flackerten noch und die Stühle waren beiseite geschoben, als ob ihre Besitzer nur kurz auf die Toilette gegangen wären und jeden Augenblick zurückkommen könnten. Plastikbecher mit kaltem Kaffee und halb ausgetrunkene Cola-Dosen standen an beinahe jedem Arbeitsplatz. Überall lagen Papiere verstreut, sogar auf dem Boden, während die Familienfotos in den Silberrahmen an Ort und Stelle verharrten. Jemand, der dicht hinter Anna ging, stieß mit ihr zusammen, darum ging sie rasch weiter.
    Als Anna in den siebten Stock kam, hielten sie nicht mehr ihre Mitflüchtlinge, sondern das Wasser und das Treibgut auf.
    Zögerlich bahnte sie sich ihren Weg durch den Schutt, als sie zum ersten Mal die Stimme hörte. Anfangs war sie schwach, dann wurde sie etwas lauter. Irgendwo unter ihr ertönte ein Megaphon und drängte sie weiter. »In Bewegung bleiben, nicht zurückschauen. Benutzen Sie nicht Ihre Handys – das hält die Menschen hinter Ihnen nur auf.«
    Drei weitere Stockwerke mussten überwunden werden, bevor sich Anna in der Lobby wiederfand, durch kniehohes Wasser watend, vorbei an dem Expressaufzug, der sie nur zwei Stunden zuvor in ihr Büro gebracht hatte. Plötzlich schalteten sich noch weitere Sprinkler an der Decke ein, aber Anna war bereits bis auf die Haut durchnässt.
    Die durch die Megaphone gebellten Anweisungen wurden immer lauter, die Forderungen immer schneidender.
    »Weitergehen, verlassen Sie das Gebäude, gehen Sie so weit weg, wie Sie nur können!« Das ist gar nicht so leicht, hätte Anna am liebsten erwidert. Als sie an die Drehkreuze kam, die sie am Morgen durchquert hatte, stellte sie fest, dass sie schief und verdreht waren. Sie mussten von einer Welle an 69
    Feuerwehrmännern nach der anderen zur Seite geschoben worden sein, als diese ihr schweres Gerät ins Gebäude trugen.
    Anna fühlte sich desorientiert und war sich nicht sicher, was sie als Nächstes tun sollte: darauf warten, dass sich ihre Kollegen sammelten? Sie blieb stehen, aber nur einen Augenblick, bevor sie eine weitere eindringliche Anweisung hörte, die direkt an sie gerichtet schien. »Weitergehen, Lady, benutzen Sie nicht Ihr Handy, schauen Sie nicht nach hinten!«
    »Wo sollen wir denn hin?«, rief jemand.
    »Die Rolltreppe hinunter, durch das Einkaufszentrum und dann so weit vom Gebäude weg wie möglich.«
    Anna schloss sich der Herde müder Urmenschen an, die auf eine überfüllte Rolltreppe traten. Sie ließ sich zur Halle hinuntertragen, bevor sie über eine weitere Rolltreppe zu der offenen Promenade hochfuhr, wo sie so oft mit Tina und Rebecca im Freien zu Mittag gegessen und dabei ein Open-Air-Konzert genossen hatte. Jetzt schien sie nicht im Freien zu sein und es erklang auch keine beruhigende Violine – nur eine weitere Stimme, die bellte: »Nicht zurückschauen, nicht zurückschauen!« Ein Befehl, dem Anna nicht gehorchte, und dann wurde sie nicht nur langsamer, sondern sank schließlich auf die Knie und begann zu würgen. Ungläubig sah sie zu, wie zuerst eine Person, dann eine weitere, die oberhalb des 90.
    Stockwerkes gefangen sein mussten, aus ihren Bürofenstern in den sicheren Tod sprangen, anstatt auf die langsame Qual des Verbrennens zu warten.
    »Aufstehen, Lady, weitergehen!«
    Anna rappelte sich auf und stolperte weiter. Plötzlich wurde sie sich bewusst, dass keiner der Polizisten, die die Evakuierung leiteten, mit den Fliehenden Augenkontakt herstellte oder auch nur versuchte, einzelne Fragen zu beantworten.
    70
    Als Anna am Borders Buchladen vorbeikam fiel ihr Blick in der Schaufensterauslage auf einen ehemaligen Nr. 1-Besteller: Der Todesflieger.
    »Weitergehen, Lady«! wiederholte eine Stimme, noch lauter.
    »Wohin?«, fragte sie verzweifelt.
    »Egal wohin, einfach weitergehen.«
    »In welche Richtung?«
    »Ist mir egal, einfach nur soweit weg wie möglich vom Turm!«
    Anna spuckte das letzte Erbrochene aus, während sie sich immer weiter vom Gebäude entfernte.
    Als sie den Eingang zur Plaza erreichte, kam sie an Löschfahrzeugen und Krankenwagen vorbei. Man kümmerte sich um die Verletzten, die noch gehen konnten, und um jene, die einfach keinen weiteren Schritt mehr zustande brachten. Als sie schließlich auf die Straße kam, sah Anna nach oben und entdeckte ein Schild mit einem Pfeil, der in schwarzen Ruß gehüllt war. Sie konnte gerade noch die Worte ›City Hall‹
    ausmachen. Zum ersten Mal fing Anna an zu joggen. Aus dem Joggen wurde ein Rennen

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