Die Farbe der Gier
entschuldigte sich.
Als Anna an die nächste Kreuzung kam, brach sie auf dem Bürgersteig zusammen und starrte zu dem Straßenschild auf –
sie befand sich an der Ecke Franklin und Church. Ich bin nur wenige Häuserblocks von Tinas Wohnung entfernt, war ihr erster Gedanke. Aber da Tina immer noch irgendwo hinter ihr war, wie hätte sie da überleben können? Ein Bus blieb neben Anna stehen. Obwohl er schon so voll war wie eine Trambahn in San Francisco während der Rushhour, traten die Leute zurück, damit sie einsteigen konnte. Der Bus hielt an der Ecke jedes Häuserblocks und ließ einige einsteigen, während andere ausstiegen – ohne dass irgendjemand das Fahrgeld zahlen musste. Es schien, als ob alle New Yorker vereint waren in dem Wunsch, irgendeine Rolle in diesem Drama zu spielen.
»Oh mein Gott«, flüsterte Anna, als sie im Bus saß. Sie vergrub den Kopf in den Händen. Zum ersten Mal dachte sie an die Feuerwehrmänner, die ihr auf der Treppe entgegen gekommen waren, und an Tina und Rebecca, die tot sein 77
mussten. Erst, wenn man jemanden persönlich kennt, wird aus einer Tragödie mehr als nur ein Bericht in den Nachrichten.
Als der Bus in Greenwich Village nahe dem Washington Square Park hielt, fiel Anna beinahe heraus. Sie stolperte auf den Bürgersteig und hustete mehrmals grauen Staub aus. Eine Frau setzte sich auf die Bordsteinkante neben sie und bot ihr eine Flasche Wasser an. Anna füllte ihren Mund einige Male, bevor sie Klumpen an schwarzer Flüssigkeit ausspuckte. Sie leerte die Flasche, ohne einen Tropfen zu schlucken. Die Frau zeigte auf ein kleines Hotel, wo die Flüchtlinge in einem steten Strom ein- und ausgingen. Sie beugte sich zu Anna und nahm sie am Arm, dann führte sie sie sanft zu der Damentoilette im Erdgeschoss des Hotels. Der Raum war voller Männer und Frauen, denen ihre Geschlechtszugehörigkeit egal war. Anna sah sich im Spiegel an und begriff, warum die Passanten sie so neugierig angestarrt hatten. Es war, als ob jemand eimerweise graue Asche über sie ausgekippt hätte. Sie hielt die Hände unter das fließende Wasser, bis nur noch ihre Nägel schwarz waren.
Dann versuchte sie, eine Schicht des festgebackenen Staubs von ihrem Gesicht zu waschen – ein beinahe hoffnungsloses Unterfangen. Sie drehte sich um, wollte sich bei der Fremden bedanken, aber wie der Cop war sie bereits verschwunden, um jemand anderem zu helfen.
Anna humpelte auf die Straße zurück, die Kehle ausgedörrt, die Knie aufgerissen, die schmerzenden Füße voller Blasen.
Während sie langsam zum Waverly Place stolperte, versuchte sie, sich an die Hausnummer von Tinas Apartmentgebäude zu erinnern. Sie kam an einem menschenleeren Waverly Diner vorbei, bevor sie vor der Hausnummer 273 stehen blieb. Anna klammerte sich an das vertraute gusseiserne Treppengeländer wie an einen Rettungsring und zog sich schwer die Stufen zur Eingangstür hoch. Mit dem Finger fuhr sie über die aufgelisteten Namen neben den Klingelknöpfen: Amato, Kravits, Gambino, O’Rourke, Forster … Forster, Forster, wiederholte sie freudig, 78
bevor sie auf den kleinen Klingelknopf drückte. Aber wie sollte Tina öffnen, wo sie doch tot sein musste, war Annas einziger Gedanke. Sie ließ den Finger auf der Klingel, als ob das Tina ins Leben zurückbringen könnte, was es nicht tat. Schließlich gab sie auf und drehte sich um. Tränen strömten über ihr staubbedecktes Gesicht, als aus dem Nichts eine wütende Stimme zu wissen verlangte: »Wer ist denn da?«
Anna brach auf der obersten Stufe zusammen.
»Gott sei Dank!«, rief sie, »du lebst, du lebst.«
»Aber du kannst nicht am Leben sein«, meinte die Stimme ungläubig.
»Mach die Tür auf«, flehte Anna, »dann siehst du es selbst.«
Das Surren des Türöffners war für Anna das schönste Geräusch an diesem Tag.
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»Du BIST AM LEBEN«, wiederholte Tina, als sie die Wohnungstür aufriss und ihre Freundin überschwänglich in die Arme nahm. Anna mochte einem Straßenjungen ähneln, der gerade einem viktorianischen Kamin entstiegen war, aber das hielt Tina nicht davon ab, sich an sie zu klammern.
»Ich musste daran denken, wie du mich immer zum Lachen gebracht hast, und ich habe mich gerade gefragt, ob ich jemals wieder würde lachen können, und da hat es an der Tür geklingelt.«
»Und ich war überzeugt, dass du den Einsturz nicht überleben konntest, selbst wenn du dich irgendwie aus dem Gebäude hättest befreien können.«
»Wenn ich eine Flasche Champagner
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