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Die Farbe der Gier

Die Farbe der Gier

Titel: Die Farbe der Gier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Farbe der Gier
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und sie überholte einige, die lange vor ihr aus den unteren Stockwerken geflohen waren. Plötzlich vernahm sie hinter sich ein unvertrautes Geräusch. Es klang wie ein Donnern, das sekündlich lauter zu werden schien. Sie wollte sich nicht umdrehen, aber sie tat es dennoch.
    Wie gelähmt stand Anna da und sah zu, wie der Südturm vor ihren Augen in sich zusammenbrach, als sei er nur aus Bambus erbaut. Innerhalb weniger Sekunden krachten die Überreste des Gebäudes zu Boden. Sie wirbelten eine Wolke aus Staub und Schutt auf, die sich pilzartig in den Himmel erhob und einen undurchdringlichen Berg aus Flammen und Rauch entstehen ließ, der einen Augenblick lang verharrte und dann unterschiedslos durch die überfüllten Straßen rollte und jeden und alles einschloss, was ihm in den Weg kam.
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    Anna rannte, wie sie noch nie zuvor gerannt war, aber sie wusste, dass es hoffnungslos war. Sie zweifelte nicht daran, dass sie nun sterben musste. Sie hoffte nur, dass es schnell gehen würde.

    Aus der Sicherheit eines Büros in der Wall Street sah Fenston zum World Trade Center hinüber.
    Ungläubig musste er mitanschauen, wie ein zweites Flugzeug direkt in den Südturm krachte.
    Während die meisten New Yorker sich Sorgen machten, wie sie in dieser tragischen Zeit ihren Freunden, Verwandten und Kollegen helfen könnten, und andere sich sorgten, was das für Amerika bedeuten mochte, hegte Fenston nur einen einzigen Gedanken. Er und Leapman waren nur wenige Augenblicke, bevor das erste Flugzeug in den Nordturm flog, in der Wall Street eingetroffen, um einen potenziellen Klienten zu treffen.
    Fenston hatte seinen Termin sausen lassen und die nächste Stunde an einem öffentlichen Telefon im Flur verbracht, um irgendjemanden, wen auch immer, in seinem Büro zu erreichen, aber niemand hatte auf seine Anrufe geantwortet. Andere hätten das Telefon ebenfalls gern benutzt, aber Fenston rührte sich nicht von der Stelle. Leapman versuchte dasselbe auf seinem Handy.
    Als Fenston eine zweite vulkanische Eruption hörte, ließ er den Hörer fallen und rannte zum Fenster. Leapman eilte rasch herbei und die beiden standen schweigend da, während sie zusahen, wie der Südturm in sich zusammenfiel.
    »Es kann nicht lange dauern, dann folgt der Nordturm nach«, prophezeite Fenston.
    »Dann dürfen wir wohl davon ausgehen, dass die Petrescu nicht überleben wird«, meinte Leapman sachlich.
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    »Die Petrescu ist mir egal«, erklärte Fenston. »Wenn der Nordturm einstürzt, verliere ich den Monet und der ist nicht versichert.«
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    ANNA RANNTE UM IHR LEBEN. Sie wurde sich zunehmend bewusst, dass mit jedem Schritt, den sie machte, alles um sie herum stiller wurde. Ein Schrei nach dem anderen erstarb und sie wusste, sie würde die Nächste sein. Hinter ihr schien sich plötzlich niemand mehr zu befinden und zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sie sich, dass jemand sie überholte, damit sie sich nicht länger wie der letzte Mensch auf Erden fühlte.
    Jetzt verstand sie, wie es sich anfühlen musste, wenn man von einer Lawine verfolgt wird, zehn Mal schneller als es ein Mensch jemals sein konnte. Und diese Lawine war schwarz.
    Anna holte tief Luft, während sie ihren Körper zwang, Geschwindigkeiten zu erreichen, die sie nie zuvor geschafft hatte. Sie hob ihre weiße Seidenbluse an – die jetzt schwarz, verrußt und zerknittert war – und hielt sie sich vor den Mund, nur wenige Augenblicke, bevor sie von einer gnadenlosen, alles verschlingenden, grauen Wolke eingehüllt wurde.
    Eine zischende Druckwelle warf Anna nach vorn und zu Boden, aber sie versuchte verzweifelt, trotzdem weiter zu fliehen. Sie hatte nur wenige Meter hinter sich gebracht, als sie unkontrolliert zu husten begann. Sie kämpfte sich einen weiteren Meter voran, dann noch einen, bis ihr Kopf plötzlich gegen etwas Hartes prallte. Anna legte die Hand auf die Mauer und versuchte, sich entlangzutasten. Aber ging sie nun von der grauen Wolke weg oder wieder mitten hinein? Asche, Schmutz, Staub verklebten ihren Mund, ihre Augen, Ohren, Nase und ihr Haar und überzogen ihre Haut. Es fühlte sich an, als ob sie lebendig verbrannt würde. Anna musste an die Menschen denken, die sie hatte springen sehen, weil sie glaubten, es sei die leichtere Art zu sterben. Jetzt verstand sie deren Gefühle, aber sie hatte kein Gebäude, von dem sie springen konnte. Sie konnte 74
    sich nur fragen, wie lange es noch dauern mochte, bevor sie erstickte. Sie machte einen letzten Schritt,

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