Die Farbe der Gier
Hoffnung, dass ihr Verstand nicht ständig zu jenen Gesichtern zurückkehrte, die die Treppe hochkamen, Gesichter, von denen sie fürchtete, sie würden für den Rest ihres Lebens in ihrer Erinnerung eingebrannt sein. Sie hatte die Schattenseite ihrer ungewöhnlichen Gabe entdeckt.
Sie versuchte, stattdessen an Victoria Wentworth zu denken und wie sie Fenston davon abhalten konnte, das Leben eines anderen Menschen zu ruinieren. Würde Victoria Anna glauben, wenn sie ihr versicherte, dass sie nicht von Anfang an von Fenstons Absicht gewusst hatte, den van Gogh zu stehlen und sie auszubluten? Warum sollte sie auch, wo Anna doch dem Vorstand angehört hatte und sich selbst so leicht hatte täuschen lassen?
Anna verließ die Küche auf der Suche nach einer Straßenkarte.
Sie fand zwei auf einem Buchregal über Tinas Schreibtisch: Eine Ausgabe von Streetwise Manhattan und den Columbia Gazetteer of North America, der gegen einen neuen Bestseller über John Adams gelehnt war, zweiter Präsident der Vereinigten Staaten. Anna blieb kurz stehen, um das Rothko-Poster an der Wand gegenüber dem Buchregal zu bewundern – nicht ihre Ära, aber sie wusste, er musste zu Tinas Lieblingskünstlern gehören, denn in ihrem Büro hatte Tina noch einen. Jetzt nicht mehr, dachte Anna plötzlich, und ihr Verstand klinkte sich wieder in die Gegenwart ein. Sie kehrte in die Küche zurück und legte die Straßenkarte von New York auf den Tisch.
Sobald sie sich für einen Weg aus Manhattan heraus entschieden hatte, faltete Anna die Karte zusammen und wandte 97
ihre Aufmerksamkeit dem Buch zu. Sie hoffte, es würde ihr bei der Entscheidung helfen, welche Grenze sie überqueren sollte.
Anna schlug Mexiko und Kanada im Index nach und machte dann ausführliche Notizen, als ob sie einen Bericht zur Vorlage vor dem Vorstand vorbereitete. Für gewöhnlich präsentierte sie zwei Alternativen, aber am Ende schloss sie ihre Berichte immer mit einer festen Empfehlung ab. Als sie das dicke, blaue Buch schließlich zusammenklappte, zweifelte Anna nicht daran, in welche Richtung sie fahren musste, wenn sie hoffte, England noch rechtzeitig zu erreichen.
Tina verbrachte die Taxifahrt zum Thornton House mit der Überlegung, wie sie in Annas Wohnung kommen und diese mit ihrem Gepäck wieder verlassen sollte, ohne das Misstrauen des Türstehers zu wecken. Als das Taxi vor dem Gebäude hielt, fuhr Tina mit der Hand zur Jackentasche. Sie trug aber keine Jacke.
Tina lief rot an. Sie hatte ihre Wohnung ohne Geld verlassen.
Tina starrte durch die Plastiktrennscheibe auf die Ausweiskarte des Fahrers: Abdul Affridi – bunte Glasperlen baumelten am Rückspiegel. Er sah nach hinten, lächelte jedoch nicht. An diesem Tag lächelte niemand.
»Ich bin ohne Geld aus dem Haus«, platzte Tina heraus und wartete auf die Lawine an Kraftausdrücken.
»Kein Problem«, murmelte der Fahrer, sprang aus dem Taxi und öffnete ihr die Wagentür. In New York hatte sich alles geändert.
Tina dankte ihm und ging nervös auf den Eingang zu. Ihren Text hatte sie gut vorbereitet. Das Drehbuch änderte sich in dem Augenblick, als sie Sam hinter der Theke sitzen sah, den Kopf in den Händen vergraben, schluchzend. Vor ihm auf der Theke lag ein Foto von Anna, wie sie an einem Marathon teilnahm. »Sie ist nicht nach Hause gekommen«, sagte er. »All meine anderen, 98
die im World Trade Center arbeiteten, sind schon vor Stunden heimgekommen.«
Tina legte die Arme um den alten Mann. Noch ein Opfer. Wie sehr wünschte sie, ihm sagen zu können, dass Anna am Leben war und dass es ihr gut ging. Aber nicht heute.
Kurz nach acht legte Anna eine Pause ein und zappte sich durch die Fernsehsender. Es gab nur eine einzige Meldung. Anna stellte fest, das sie die endlosen Berichterstattungen nicht anschauen konnte, ohne nicht auch ständig an ihre eigene, kleine Rolle in diesem tragischen Zweiakter erinnert zu werden. Sie wollte gerade das Fernsehgerät ausschalten, als bekannt gegeben wurde, dass Präsident Bush eine Rede an die Nation halten wollte. »Guten Abend. Heute wurden unsere Mitbürger …«
Anna lauschte aufmerksam und nickte, als der Präsident fortfuhr: »Die Opfer befanden sich in Flugzeugen oder in ihren Büroräumen; es waren Sekretärinnen, Geschäftsleute …«
Wieder musste Anna an Rebecca denken. »Keiner von uns wird diesen Tag jemals vergessen …«, schloss der Präsident und Anna stimmte ihm von ganzem Herzen zu. Sie schaltete das Fernsehgerät aus, als der
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