Die Farbe der Gier
stellte seinen Aktenkoffer auf die Theke, öffnete ihn und zog eine Namensliste heraus. Er fuhr mit dem Finger über die Liste, bis er beim Buchstaben P ankam.
»Anna Petrescu«, las er vor. »Das ist die letzte bekannte Adresse, die wir von ihr haben.«
»Ich habe Anna nicht mehr gesehen, seit sie am
Dienstagmorgen zur Arbeit ging«, erklärte Sam. »Es haben sich jedoch mehrere Leute nach ihr erkundigt und eine ihrer 124
Freundinnen kam am Dienstagabend vorbei und hat einige persönliche Dinge abgeholt.«
»Was hat sie mitgenommen?«
»Keine Ahnung«, sagte Sam. »Ich habe nur den Koffer erkannt.«
»Ist Ihnen der Name der Frau bekannt?«
»Warum wollen Sie das wissen?«
»Es könnte hilfreich sein, wenn wir Kontakt zu ihr bekommen.
Annas Mutter macht sich große Sorgen.«
»Nein, ich kenne ihren Namen nicht«, räumte Sam ein.
»Würden Sie sie wiedererkennen, wenn ich Ihnen ein Foto zeige?«
»Wäre möglich«, meinte Sam.
Wieder öffnete der Mann seinen Aktenkoffer. Dieses Mal zog er ein Foto heraus und schob es Sam zu. Der betrachtete es einen Augenblick lang.
»Ja, das ist sie. Hübsches Mädchen.« Er schwieg. »Aber nicht so hübsch wie Anna. Anna war schön.«
Als Anna auf die 1-90 bog, fiel ihr auf, dass die zulässige Höchstgeschwindigkeit bei 70 Meilen lag. Sie hätte diese Beschränkung nur zu gern gebrochen, aber wie fest sie auch aufs Gas trat, sie schaffte nicht mehr als 68 Meilen pro Stunde.
Obwohl der zweite Truck immer noch weit hinter ihr lag, schloss er rasch auf und dieses Mal hatte sie keinen Fluchtplan.
Anna betete um ein Zeichen. Der Truck war nur noch fünfzig Meter hinter ihr und kam sekündlich näher, als sie plötzlich die Sirene hörte.
Der Gedanke, an die Seite fahren zu müssen, entzückte sie, und es war ihr völlig egal, ob man ihr glauben würde, wenn sie erklärte, warum sie mehrere Spuren auf dem Highway gekreuzt 125
hatte, um auf die Ausfahrt zu fahren, ganz zu schweigen davon, warum bei ihrem Lieferwagen beide Stoßstangen und ein Kotflügel fehlten und dass keiner ihrer Scheinwerfer funktionierte. Sie verlangsamte bereits, als der Streifenwagen an dem Truck vorbeidonnerte und hinter ihr einscherte. Der Polizist sah nach hinten und wies den Truckfahrer an, an die Seite zu fahren. Anna beobachtete in ihrem Beifahrerspiegel, wie beide Fahrzeuge auf dem Standstreifen zum Stehen kamen.
Es dauerte über eine Stunde, bevor sie ruhig genug war, um nicht alle paar Minuten in den Seitenspiegel zu schauen.
Nach einer weiteren Stunde wurde sie allmählich hungrig und beschloss, in einem Café am Straßenrand zu frühstücken. Anna parkte den Lieferwagen, schlenderte hinein und setzte sich an das hintere Ende der Theke. Sie ging die Speisekarte durch und bestellte dann das ›Große Frühstück‹: Eier, Schinken, Würstchen, Kartoffelbrei, Pfannkuchen und Kaffee. Nicht gerade ihre normale Morgenmahlzeit, aber was war in den vergangenen 48 Stunden schon normal gewesen.
Beim Kauen ging Anna ihren Streckenplan durch. Die beiden Betrunkenen, die sie verfolgt hatten, waren ihr zumindest behilflich gewesen, ihren Zeitplan einzuhalten. Anna rechnete aus, dass sie ungefähr 380 Meilen bereits hinter sich gebracht hatte, aber bis zur kanadischen Grenze lagen immer noch 50
Meilen vor ihr. Sie inspizierte die Landkarte genauer. Nächster Halt: Niagarafälle. Sie schätzte, dass sie bis dort noch eine Stunde unterwegs sein würde.
Das Fernsehgerät hinter der Theke brachte die
Morgennachrichten. Die Hoffnung, weitere Überlebende zu finden, schwand. New York hatte angefangen, seine Toten zu betrauern, und machte sich an die lange und anstrengende Aufgabe des Aufräumens. Ein Trauergottesdienst, an dem der Präsident teilnehmen sollte, war als Teil eines nationalen Tages der Erinnerung in Washington geplant. Der Präsident wollte anschließend nach New York fliegen und Ground Zero 126
besuchen. Bürgermeister Giuliani tauchte als Nächstes auf dem Bildschirm auf. Er trug ein T-Shirt, auf dem stolz die Buchstaben NYPD prankten, und eine Kappe mit dem
Schriftzug NYFD auf dem Schild. Giuliani pries den Mut der New Yorker und gelobte seine Entschlossenheit, die Stadt so schnell wie möglich wieder auf die Beine zu bringen.
Die Nachrichten wechselten zum JFK, wo ein
Flughafensprecher bestätigte, dass die ersten Linienflüge am nächsten Morgen wie geplant abheben würden. Dieser eine Satz entschied über Annas Zeitplan. Sie wusste, sie musste in London ankommen, bevor
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