Die Farbe der Gier
das sie überholte, entschuldigend zu, während sie weiter in den Rückspiegel schaute. Sie fürchtete, einer der Trucks könnte sie verfolgen. Sie presste den Fuß auf das Gaspedal, bis es mit dem Boden verschmolz, fest entschlossen, die
Höchstgeschwindigkeit des Lieferwagens herauszufinden. Sie betrug 68 Meilen die Stunde.
Noch einmal sah Anna in den Rückspiegel. Ein riesiger 40-Tonner kam auf der Innenspur auf sie zu. Sie krallte sich in das Lenkrad und drückte den Fuß wieder auf das Gaspedal, aber der Lieferwagen hatte nichts mehr zuzulegen. Der Truck gewann an Boden, Meter um Meter. Wenige Augenblicke später wusste Anna, dass er sich in einen Bulldozer verwandeln würde. Sie presste die linke Handfläche auf die Hupe und produzierte einen Ton, der nicht einmal kleine Spatzenküken in ihrem Nest erschreckt hätte. Ein großes, grünes Schild tauchte am Straßenrand auf und kündigte eine Ausfahrt auf die 1-90 in einer Meile an.
Anna fuhr auf die mittlere Spur. Der riesige Truck folgte ihr wie ein Magnet und war jetzt so nah, dass Anna den Fahrer in 121
ihrem Seitenspiegel sehen konnte. Er grinste sie zahnlos an und hupte.
Seine Hupe stieß einen Ton aus, der mühelos die letzten Takte einer Wagner-Oper hätte übertönen können.
Nur noch eine halbe Meile bis zur Ausfahrt, versprach ein weiteres Schild. Anna bog auf die Überholspur, wodurch eine Reihe von Autos auf die Bremse treten und langsamer fahren musste. Dieses Mahl drückten gleich mehrere Leute auf die Hupe. Anna ignorierte sie und verlangsamte auf 50 Meilen; das Hupen wurde zum Orchester.
Der 40-Tonner fuhr auf ihre Höhe. Sie wurde noch langsamer.
Eine Viertelmeile bis zur Ausfahrt, verkündete ein drittes Schild. Anna konnte die Ausfahrt in der Ferne sehen, dankbar für die ersten Strahlen der Morgensonne, die durch die Wolken brachen, denn keiner ihrer Scheinwerfer funktionierte.
Anna wusste, dass sie nur eine einzige Chance hatte und ihr Timing perfekt sein musste. Sie packte das Lenkrad mit fester Hand, als sie die Ausfahrt zur 1-90 erreichte, und fuhr an dem grünen Dreieck aus Gras vorbei, das die beiden Highways voneinander trennte. Abrupt trat sie auf das Gaspedal und obwohl der Lieferwagen nicht gerade einen Satz nach vorn machte, spuckte er und gewann ein paar Meter. Würde es ausreichen? Der Truckfahrer reagierte sofort und beschleunigte ebenfalls. Er war nur eine Autolänge entfernt, als Anna plötzlich das Lenkrad nach rechts riss und über die mittlere und die rechte Spur fuhr, bevor sie auf dem Gras landete. Der Lieferwagen hüpfte über das unebene Dreieck aus Gras und landete auf der Ausfahrt. Ein Wagen, der auf der rechten Spur fuhr, musste schwer das Lenkrad herumreißen, um nicht mit ihr zu kollidieren, während ein anderer auf der linken Spur an ihr vorbeiraste. Als Anna den Lieferwagen auf der rechten Spur verlangsamte, sah sie zu dem 40-Tonner, der auf dem Highway weiterfuhr und ihren Blicken entschwand.
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Anna verlangsamte auf 50 Meilen pro Stunde, obwohl ihr Herz immer noch drei Mal so schnell pochte. Sie versuchte, ruhig zu werden. Wie bei allen Sportarten kam es nur auf die Geschwindigkeit an, in der man sich regenerierte. Als sie auf die 1-90 bog, sah sie in den Rückspiegel. Ihr Herzschlag schnellte sofort wieder auf 150, als sie den zweiten 40-Tonner sah, der sich ihr näherte.
Der Kumpel des Bierbauches hatte nicht denselben Fehler wie sein Freund gemacht.
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ALS DER FREMDE in die Lobby trat, sah Sam hinter seiner Theke auf. Als Türsteher musste man Menschen sofort einschätzen können. Fielen sie in die Kategorie ›Guten Morgen, Sir‹ oder genügte ein einfaches ›Hallo‹? Sam musterte den großen Mann mittleren Alters, der soeben eingetreten war. Er trug einen eleganten, aber abgetragenen Anzug, der Stoff glänzte ein wenig an den Ellbogen und die Manschetten waren etwas verschlissen. Seine Krawatte war wohl schon tausend Mal gebunden worden, wie Sam vermutete.
Sam entschied sich für ein »Guten Morgen«.
»Guten Morgen«, erwiderte der Mann. »Ich komme von der Einwanderungsbehörde.«
Das machte Sam nervös. Obwohl er in Harlem geboren worden war, hatte er Geschichten von Leuten gehört, die versehentlich ausgewiesen worden waren.
»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«, fragte er.
»Ich überprüfe die Personen, die nach dem Terroranschlag vom Dienstag immer noch vermisst werden und vermutlich tot sind.«
»Jemand Bestimmtes?«, erkundigte sich Sam vorsichtig.
»Allerdings.« Der Mann
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