Die Farbe der Gier
Sie zog die schwere Tür auf und sie betraten einen viereckigen Betonraum. Ein Thermometer an der Wand zeigte eine Temperatur von 20 Grad Celsius an.
Der Raum war mit Holzregalen ausgekleidet, auf denen sich Gemälde befanden, die auf ihren Transport in die verschiedenen Teile der Welt warteten, alle in den charakteristischen roten Kisten von Art Locations. Ruth prüfte die Inventarliste, bevor sie durch den Raum ging und zu einer Regalzeile aufsah. Sie zeigte auf eine Kiste, auf die mit einer Schablone in allen vier Ecken die Zahl 47 aufgetragen worden war.
Anna gesellte sich gemächlich zu ihr, spielte auf Zeit. Sie überprüfte ebenfalls die Inventarliste. Die Nummer 47, Vincent van Gogh, Selbstporträt mit abgeschnittenem Ohr, 24 x 18 Zoll.
»Es scheint alles in Ordnung zu sein«, sagte Anna, als der Sicherheitsmann in der Tür auftauchte.
»Tut mir Leid, Sie zu stören, Ms. Parish, aber draußen stehen zwei Sicherheitsleute von Sotheby’s und sagen, man habe sie angewiesen, den van Gogh zur Schätzung abzuholen.«
»Wissen Sie davon?« Ruth drehte sich zu Anna um.
»Oh ja«, meinte Anna, ohne mit der Wimper zu zucken. »Der Vorsitzende hat mich angewiesen, den van Gogh aus 162
versicherungstechnischen Gründen schätzen zu lassen, bevor er nach New York gebracht wird. Sie benötigen das Gemälde nur etwa eine Stunde und schicken es dann umgehend zurück.«
»Mr. Leapman hat davon nichts gesagt«, meinte Ruth. »Es stand auch nichts in seiner E-mail.«
»Offen gesagt, Leapman ist ein solcher Banause, der kennt doch nicht einmal den Unterschied zwischen van Gogh und van Morrison.« Anna hielt kurz inne. Normalerweise ging sie nie ein solches Wagnis ein, aber sie konnte nicht riskieren, dass Ruth Fenston anrief und die Sache überprüfte. »Wenn Sie Zweifel haben, rufen Sie doch New York an und reden Sie mit Fenston.
Das sollte die Angelegenheit klären.«
Anna wartete nervös, während Ruth über ihren Vorschlag nachdachte.
»Damit er mir wieder den Kopf abbeißen kann?«, sagte Ruth schließlich. »Danke, nein. Ich denke, ich verlasse mich einfach auf Ihr Wort. Vorausgesetzt, Sie unterzeichnen die Freigabepapiere?«
»Selbstverständlich. Das ist schließlich meine treuhänderische Aufgabe als Repräsentantin der Bank.« Anna hoffte, ihre Antwort hatte angemessen bombastisch geklungen.
»Werden Sie diese Planänderung auch Mr.
Leapman
erklären?«
»Das wird nicht nötig sein«, meinte Anna. »Das Gemälde ist längst wieder hier, bevor sein Flugzeug landet.«
Ruth wirkte erleichtert. Sie wandte sich an den
Sicherheitsmann und sagte: »Es ist die Nummer 47.«
Sie begleiteten den Sicherheitsmann, der die rote Kiste aus dem Regal nahm und sie zum Transporter von Sotheby’s trug.
»Hier unterschreiben«, bat der Fahrer.
Anna trat vor und unterschrieb das Freigabedokument.
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»Wann bringen Sie das Gemälde zurück?«, fragte Ruth den Fahrer.
»Ich weiß nichts von …«
»Ich werde Mark Poltimore bitten, das Gemälde spätestens in zwei Stunden zurückbringen zu lassen«, unterbrach Anna.
»Es sollte besser wieder hier sein, bevor Mr. Leapman landet«, sagte Ruth. »Ich will es mir mit diesem Mann nicht verderben.«
»Wären Sie beruhigter, wenn ich das Gemälde zu Sotheby’s begleite?«, erkundigte sich Anna unschuldig. »Dann kann ich den Vorgang eventuell beschleunigen.«
»Würden Sie das tun?«, fragte Ruth.
»Unter diesen Umständen wäre das vielleicht am
vernünftigsten.«
Anna kletterte in den Sicherheitswagen und setzte sich zwischen die beiden Männer.
Ruth winkte, als der Wagen durch die Pforte auf die Perimeter Road fuhr und sich auf seiner Reise nach London in den spätnachmittäglichen Verkehr einfädelte.
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24
DER GULFSTREAM V JET von Bryce Fenston setzte um 19
Uhr 22 in Heathrow auf. Ruth stand an der Rollbahn und wartete darauf, den Repräsentanten der Bank begrüßen zu können. Sie hatte den Zoll bereits mit allen relevanten Informationen versorgt, so dass der Papierkram abgeschlossen werden konnte, sobald Anna zurückkehrte.
In der vergangenen Stunde hatte Ruth immer öfter zur Hauptpforte geschaut und den Sicherheitswagen mit schierer Willenskraft herbeizuzwingen versucht. Sie hatte bei Sotheby’s angerufen und eine junge Frau in der Impressionistenabteilung hatte ihr versichert, dass das Gemälde eingetroffen war. Aber das war vor über zwei Stunden gewesen. Vielleicht hätte sie in den Staaten anrufen sollen, um die Sache bestätigen zu lassen,
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