Die Farbe der Gier
klar, in welche Gefahr sie sich brachte? Jack war bereits zu der
Schlussfolgerung gelangt, dass er wahrscheinlich am ehesten auf Anna stoßen würde, wenn sie ihre Mutter besuchte. Dieses Mal würde er auf sie warten. Er fragte sich, ob die Frau, die er beim Anstehen vor dem Flugzeug gesehen hatte, denselben Plan verfolgte, und wenn ja, ob sie Fenstons Apportierhund war oder ob sie für jemand anderen arbeitete?
Der Hotelportier bot ihm einen Stadtplan für Touristen an, der die schöneren Teile des Stadtzentrums farbig hervorhob, jedoch nicht die Vororte. Also ging Jack zum Zeitungskiosk und kaufte einen Stadtführer mit dem Titel Alles, was Sie über Bukarest wissen müssen. Kein einziger Abschnitt war dem Berceni-Viertel gewidmet, in dem Annas Mutter lebte, obwohl man immerhin auf einem Faltplan in der hinteren Klappe des Buches die Piazza Resitei verzeichnet hatte. Mit Hilfe eines Streichholzes, das er mit dem Maßstab in der unteren linken Ecke des Planes abglich, fand Jack heraus, das Annas 202
Geburtshaus ungefähr sechs Meilen nördlich des Hotels liegen musste.
Er beschloss, die ersten drei Meilen zu Fuß zu gehen – nicht nur, weil er die Bewegung brauchte, sondern weil er dann eher herausfinden konnte, ob er verfolgt wurde.
Jack verließ das Hotel International um 7 Uhr 30 in zügigem Tempo.
Anna verbrachte ebenfalls eine unruhige Nacht. Es fiel ihr schwer zu schlafen, während die rote Kiste unter ihrem Bett lag.
Langsam bekam sie Zweifel, ob Anton wirklich ein so unnötiges Risiko eingehen und ihr bei ihrem Plan helfen sollte, auch wenn es nur wenige Tage in Anspruch nahm. Sie waren
übereingekommen, sich um acht Uhr in der Akademie zu treffen.
Als sie das Hotel verließ, sah sie als Erstes Sergei in seinem alten Mercedes, der vor dem Eingang stand. Sie fragte sich, wie lange er schon auf sie wartete. Sergei sprang aus dem Wagen.
»Guten Morgen, Madame«, sagte er und lud die rote Kiste in den Kofferraum.
»Guten Morgen, Sergei«, erwiderte Anna. »Ich möchte gern zur Akademie, wo ich die Kiste abladen werde.« Sergei nickte und öffnete die hintere Wagentür für sie.
Auf der Fahrt zur Piata Universitatii erfuhr Anna, dass Sergei eine Frau hatte, mit der er seit über 30 Jahren verheiratet war, und einen Sohn, der in der Armee diente. Anna wollte gerade fragen, ob er jemals ihren Vater getroffen hatte, als sie Anton entdeckte, der am Fuß der Treppe zur Akademie stand und ängstlich und nervös wirkte.
Sergei hielt den Wagen an, sprang aus und lud die Kiste aus dem Kofferraum.
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»Das ist es?«, fragte Anton und betrachtete die rote Kiste misstrauisch. Anna nickte. Anton folgte Sergei, der die Kiste die Stufen hochtrug. Er öffnete ihm die Eingangstür und beide verschwanden im Gebäude.
Anna sah alle paar Minuten auf ihre Uhr und dann wieder zum Eingang. Die beiden Männer waren nur wenige Minuten weg, aber sie fühlte sich zu keiner Zeit allein. Wurde sie in diesem Moment von Fenstons Wachhund beobachtet? Hatte er herausgefunden, wo sich der van Gogh befand? Schließlich kehrten Anton und Sergei mit einer anderen Holzkiste zurück.
Obwohl sie exakt dieselbe Größe besaß, waren die einfachen Holzleisten völlig unmarkiert. Sergei legte die neue Kiste in den Kofferraum des Mercedes, schlug den Deckel zu und setzte sich hinter das Lenkrad.
»Ich danke dir.« Anna küsste Anton auf beide Wangen.
»Ich werde nicht viel Schlaf bekommen, solange du weg bist«, murmelte Anton.
»In drei Tagen bin ich zurück«, versprach Anna. »Dann nehme ich dir das Gemälde wieder ab und niemand wird je etwas davon erfahren.« Sie nahm auf dem Rücksitz Platz.
Als Sergei losfuhr, starrte sie aus dem Rückfenster auf die einsame Gestalt von Anton, der am Fuß der Treppe zur Akademie stand und besorgt aussah.
Jack sah sich nicht um, aber sobald er die erste Meile hinter sich hatte, ging er in einen großen Supermarkt und verbarg sich hinter einer Säule. Er wartete darauf, dass sie vorbeikommen würde. Was sie nicht tat. Ein Amateur wäre vorbeigeschlendert, hätte der Versuchung nicht widerstehen können, in das Gebäude zu schauen, wäre vielleicht sogar eingetreten. Jack wartete nicht zu lange, weil er wusste, dass es sie misstrauisch machen würde.
Er kaufte ein Baguette mit Schinken und Ei und trat wieder auf die Straße. Während er sein Frühstück verspeiste, überlegte er 204
sich, warum er verfolgt wurde. Für wen arbeitete sie? Wie lautete ihr Auftrag? Hegte sie die Hoffnung, dass
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