Die Farbe Der Leere
Eltern hatten deutlich klargestellt, dass es absolut undenkbar war, so etwas laut auszusprechen. Seth schämte sich so, meine Eltern enttäuscht zu haben, dass er weglief, als er sechzehn war. Er kam nicht mehr nach Hause, erst Jahre später. Ich weiß, wie sehr meine Mutter bereut, was sie getan hat.«
Sie hatte sich selbst sehr lange nicht mehr gestattet, daran zu denken. Weil sie genau das befürchtete, was jetzt prompt eintrat. Sie hörte Seths heitere Stimme, als er sie nach seiner Flucht zum ersten Mal anrief. »Hey, Kat. Weißt du was? Es gibt hier jede Menge Leute wie mich, und ich hab auch schon raus, wo wir uns treffen.«
Damals hatte sie alles andere noch nicht wahrgenommen: die gespielte Selbstsicherheit, den unechten Triumph in seinen Worten. Sie war zu jung gewesen, zu erpicht darauf, dass ihr großer Bruder es geschafft hatte. »Ich hab einen gefälschten Pass und auch schon einen Job. Ich bin jetzt Barkeeper.«
Nun, wo das Band einmal lief, fehlte ihr jede Handhabe, es anzuhalten. Sie würde es bis zum Ende hören müssen. Seine Stimme wurde ernst und zärtlich. »Ich hasse es, dich da alleine zu lassen. Lässt er dich in Ruhe? Wenn nicht, komm ich sofort vorbei und hol dich da raus. Uns fällt schon was ein.«
»Er lässt mich in Ruhe.«
»Na gut. Sobald ich eine eigene Wohnung gefunden habe, schicke ich dir Geld, und du kannst zu mir kommen und hier leben. Hey, sag ein Wort, und ich komme und hol dich gleich. Wir regeln das schon irgendwie.«
In der Hoffnung, dass er sie nicht schluchzen hörte, erwiderte sie: »Mir geht's gut. Wirklich. Weißt du, er hat … schon lange nichts mehr gemacht. Du brauchst nichts zu tun.«
Da war eine gezwungene Unbekümmertheit in seiner Stimme, als er sagte: »Okay, dann ist ja alles gut. Ich ruf dich an, wenn ich kann. Vergiss nicht, ich liebe dich.«
Es war das letzte Mal gewesen, dass sie eine Chance gehabt hätte, Einfluss auf den Verlauf von Seths Leben zu nehmen. Aber sie hatte ihn ziehen lassen.
Mrs. Campbell brach in ihre Erinnerungen ein. »Lebt Ihr Bruder immer noch als Homosexueller?«
»Mein Bruder ist tot.«
Er hatte sie über die Jahre hin und wieder angerufen. Der Kontakt war erratisch, denn wenn ihre Eltern seinen Anruf entgegennahmen, hängten sie ein, ohne ihr etwas zu sagen. Sie hatte ihn jahrelang nicht gesehen. Und als es endlich dazu kam, konnte er sie nicht mehr sehen. Seth war erblindet.
Er starb sechs Monate später im Haus ihrer Eltern. Ihre Mutter pflegte ihn, jede ihrer Bewegungen schwer von Reue und Schuld. Ihr Vater beobachtete das alles in verbittertem Schweigen. Er gab sich keine Mühe, seine Verachtung zu verbergen. Er konnte sich nicht mal überwinden, den Namen der Krankheit auszusprechen, die seinen Sohn tötete.
Als es an der Tür klopfte, fuhren Katherine und Mrs. Campbell heftig zusammen. Auf der anderen Seite des Türspions stand Brigit in ihrer gestärkten weißen Bluse und dem blau karierten Schulrock.
»Ist meine Mutter da?«, fragte das Mädchen.
Mrs. Campbell kam an die Tür gestürzt.
»Brian ist zu Hause.«
Mrs. Campbell folgte ihr sofort, ohne ein weiteres Wort zu Katherine. Die sah ihnen nach, wie sie den Gehweg entlanghasteten. Dann schloss sie die Tür, verriegelte sie sorgfältig und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Sie brauchte eine Stütze. Sie fühlte sich wund. Sie hatte Seths Namen laut ausgesprochen.
Seth hatte eine Welt für sie bedeutet, und sie hatte ihm das nie gesagt. Die Nächte, in denen er am Fußende ihres Bettes wachte, waren Nächte, in denen sie frei atmen konnte. So hatte sie es jedenfalls empfunden.
Sie hatte sich in einen Jungen verliebt, als sie auf dem College war. Mit einer intensiven Leidenschaft, die sie beide überraschte. Aber nachdem sie ihm von ihrem Vater erzählt hatte, hatte er sie nie wieder auf die gleiche Art berührt wie vorher. Er konnte es nicht ertragen. Sie verstand das. Sie konnte es selbst kaum ertragen.
Als sie Barry kennenlernte, glaubte sie einen Mann gefunden zu haben, der ihre Geheimnisse respektierte. Was sie jedoch gefunden hatte, war ein Mann, der jahrzehntelang neben einer schwer beschädigten Frau herleben konnte, ohne auch nur das Geringste zu merken.
Sie musste damit aufhören. Sie konnte nicht in ihren Erinnerungen dümpeln. Sie hatte zu tun. Vom Telefon in ihrer Küche wählte sie Mendrinos an. Mit dem Rücken zur Haustür starrte sie durchs Fenster in die Dunkelheit des Innenhofs. Er nahm beim ersten Klingeln ab.
»Hier ist
Weitere Kostenlose Bücher