Die Farbe Der Leere
verstümmelten Taschentuch. »Die Spannungen zwischen Brian und seinem Vater, Sie können sich nicht vorstellen, wie das war.«
Katherine sagte nichts.
»Brigit hat mir gezeigt, wie das geht.«
Die kleine Sau, dachte Katherine. Verräterin. Petze.
Sie wollte die Frage nicht stellen, aber sie wusste, sie musste es tun. »Haben Sie Angst, dass Ihr Mann Sie schlägt, wenn er erfährt, dass Brian weg ist?«
»Natürlich nicht! Mein Mann würde mich nie anrühren!«
Katherine hoffte, dass dem so war. »Und was ist mit Brian?«
»Er hat ihn noch nie geschlagen. Ich glaube nicht, das er das tun würde. Aber ich weiß wirklich nicht, was geschieht, wenn er herausfindet, dass Brian …« Sie schien unfähig, weiterzusprechen.
»Wenn er was herausfindet?«
Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Dass er homosexuelle Neigungen hat.« Nackte Scham schwang schmerzhaft in ihrem Ton mit. »Ich weiß, Sie glauben nicht an so etwas, aber ich weiß genau, dass Gott ihn bestrafen wird, wenn er diese Neigungen nicht unter Kontrolle bringt. Ich will nicht, dass meinem Sohn das passiert.«
Es gab keinen Zweifel an Mrs. Campbells Aufrichtigkeit. Diese Frau glaubte tatsächlich, dass Brian für die Sünde, einen Mann zu lieben, von den Feuern der Hölle verzehrt werden konnte.
Ihre Stimme wurde noch leiser, und Katherine musste den Atem anhalten, um sie zu verstehen. »Jeden Morgen bete ich darum, dass Brian eine Berufung zum Priester erfährt.«
Katherine war sprachlos.
»Viele Priester sind so. Die Priesterschaft ist Gottes Weg, sie vor der Versuchung zu retten.«
Genau, dachte Katherine. Frei von Versuchung in einem Priesterseminar voller Männer oder beim Kirchenchor der Knaben. Hat sie noch nie Zeitung gelesen?
»Ich glaube, wir sollten uns im Moment mehr um Brians Sicherheit sorgen. Sind Sie ganz sicher, dass er aus freien Stücken nicht nach Hause kommt?«
Mrs. Campbell nickte. »Als ich herausgefunden habe, dass er nicht zur Bibliothek gegangen ist – in der Schule war heute früher Schluss wegen einer Lehrerkonferenz –, habe ich seine E-Mails gelesen. Er hat sich mit seinem Freund verabredet.«
»Wissen Sie, wie Sie diesen Unbekannten erreichen können, mit dem Brian sich eingelassen hat?« Sie hoffte inständig, dass Brian bald nach Hause kam, damit sie nicht gezwungen war, das wenige preiszugeben, was sie von der Identität seines Schwarms wusste: dass sein Name Rob war und er nicht auf Brians Schule ging. Verdammt. Als sie Brian zu seiner Verliebtheit gratuliert hatte, war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass er etwas derartig Blödes veranstalten würde. Wie oft noch muss ich die Lektion lernen, dass nichts Gutes dabei rauskommt , wenn man sich in anderer Leute Angelegenheiten reinziehen lässt?
Mrs. Campbell schüttelte langsam den Kopf. »Er wirkte in letzter Zeit so glücklich.« Ihre Stimme klang wehmütig.
Also war sie nicht vollkommen blind. »Hat Ihr Mann einen Verdacht?«
Mrs. Campbell schwieg so lange, dass Katherine nicht sicher war, ob sie die Frage überhaupt gehört hatte. Als sie schließlich sprach, tat sie es mit einer stillen Gefasstheit, so als wüsste sie, dass Katherine zwangsläufig schlecht von ihnen denken würde, wäre aber dennoch entschlossen, die Wahrheit zu sagen. »Soweit ich weiß, hat mein Mann niemals direkt etwas zu Brian gesagt. Aber jeden Morgen bei der Familienandacht betet er darum, dass Brian vor der Sünde der Homosexualität bewahrt werden möge.«
Katherine traute ihren Ohren nicht. Sie konnte es nicht fassen. »Das sagt er laut? Vor der ganzen Familie? Jeden Morgen?«
Mrs. Campbell nickte und faltete die Hände im Schoß wie ein braves Schulmädchen, das sein Gedicht aufgesagt hat. Es schien fast, als glaubte sie, nun, wo sie Katherine gebeichtet hatte, sei es Katherines Aufgabe, alles zu richten.
Die juristische Definition von Missbrauch würde Mr. Campbells tägliches Gebet wohl nicht einschließen. Aber wenn er Brian mit Handschellen ans Bett gekettet hätte, wäre die Verletzung vielleicht weniger tief, der Schaden geringer gewesen, dachte sie.
Sie musste Mrs. Campbell unbedingt klarmachen, wie gefährlich Mr. Campbells Ansatz war. Aber sie wusste nicht, wie sie das anstellen sollte, bis sie die Worte aus ihrem Mund kommen hörte. »Ich hatte einen älteren Bruder. Sein Name war Seth.«
Mrs. Campbell sah sie verwirrt an.
»Er war schwul. Seth war schwul. Jeder wusste es, und alle versuchten krampfhaft so zu tun, als wüssten sie es nicht. Meine
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