Die Farbe Der Leere
Stirn. »Autsch, Eiscremekopfweh.« Sie nahm einen zweiten, etwas kleineren Schluck. »Aber das ist es wert.«
»Ich hatte heute einen dieser Fälle«, sagte Annie, »wo das Kind nicht gegen den Erwachsenen aussagen will, der es missbraucht hat.«
Mitfühlendes Seufzen. »Welche Art Missbrauch?«, fragte Katherine.
»Was glaubt ihr denn? Sex.«
Mehr Seufzer. »Und?«, sagte Diane.
»Also, sie ist neun. Es war ihr Stiefvater. Wir haben Fotografien, die sie voneinander gemacht haben.«
»Du hast Fotos?«
»Jau, sie hat Fotos von ihm gemacht, nackt, und er von ihr. Wir haben allerdings keins von beiden zusammen.«
»Aber das sollte doch trotzdem reichen.«
»Wir werden sehen. Die Bettlaken sind auf dieselbe Art geknittert, ich meine, das beweist, dass die Fotos zur selben Zeit aufgenommen wurden. Aber sie sagt kein Wort. Sie schützt ihn.«
»Guter Gott.«
»Ich glaube, für solche ist es am schlimmsten«, bemerkte Diane. »Hey, sagt nichts Interessantes, ich geh nur mal schnell Nachschub holen.« Sie verschwand in der Küche, kehrte zurück, füllte alle Gläser auf und platzierte den Mixerkrug auf dem Tisch.
Katherine sah Fingerabdrücke, die um den Lichtschalter geschmiert waren, und nahm den Geruch des Zimmers wahr. Es roch nach Seife und Brot und Butter und einer Menge anderer Dinge, die sie nicht benennen konnte, die ihr aber vertraut waren. Ihr eigenes Apartment roch nur leer, da war sie sicher.
»Für welche ist es am schlimmsten?«, hakte Annie nach.
»Für die, denen es irgendwie gefallen hat. Wenn das schlechte Gewissen kommt – und das kommt früher oder später immer –, ist es am schlimmsten für die, die es mochten.«
»Wie kann es denn jemand mögen, vom eigenen Vater vergewaltigt zu werden?«
»Oder vom neuen Lebensgefährten der Mutter betatscht? Und was ist mit dem sechs Monate alten Mädchen, das vergewaltigt wurde, bis ihr Rektum aufriss?«, fragte Katherine.
»Ich sag doch nicht, dass es immer so ist, nicht mal oft. Du weißt, ich bin alles andere als eine Schönrednerin elterlichen Missbrauchs.« Sie blickte in ihr Glas und schwenkte die Flüssigkeit. »Aber ich glaube, wir müssen uns der Tatsache stellen, dass Kinder auch sexuelle Wesen sind. Es ist nicht immer nur Gewalt und Schmerz im Spiel. Ihr Körper reagiert doch auf das, was mit ihnen gemacht wird. Sie wissen, es ist ›falsch‹, was immer das bedeutet, und sie wissen zugleich, ihr Körper mag es irgendwie, denn das tut der Körper. Das ist der Zweck dieser Körperteile. Solche Kinder leben in einer ganz besonderen Hölle.« Sie leerte ihr zweites Glas. »Wir wissen, wie schwer es für sie ist, laut auszusprechen, was mit ihnen gemacht wurde. Was hat was berührt und so weiter. Jetzt stellt euch mal vor, wie schwer es sein muss, dann zu sagen, es hat sich gut angefühlt. Und noch schwerer, selber damit klarzukommen. Und können sie das überhaupt? Haben sie danach jemals eine normale Liebesbeziehung?«
Katherines und Annies Blicke trafen sich kurz, beide sahen schnell woandershin.
»Immer spüren sie einen Stachel, wenn sexuelles Vergnügen aufkommen will, für den Rest ihres Lebens …« Diane sprach mit einer Gewissheit, die Katherine Angst machte. Sie hatte nie erlebt, dass Diane Behauptungen von sich gab, wenn sie nicht genau wusste, dass sie der Wahrheit entsprachen.
Es gab dieses Klischee, dass jeder, der in ihrer Sparte tätig war, als Kind missbraucht wurde und den Beruf dazu benutzte, seine Vergangenheit aufzuarbeiten. Die drei Frauen hatten dieses Konzept alle für lächerlich erklärt. Aber keine von ihnen hatte je freiwillig von ihrer Kindheit erzählt.
Ein hartnäckiges Klingeln zerriss plötzlich die Luft. »Wer zur Hölle ist das?«, knurrte Diane und ging zur Sprechanlage neben der Wohnungstür. »Ja?«, sprach sie hinein und dann: »Hey, alter Junge, komm sofort hoch und gesell dich zu unserer Party. Du kennst ja den Weg.« Jetzt klang sie wieder kess und neckisch, ganz die alte Diane. Aber einen Moment zuvor hatte Katherine die Dunkelheit in ihren Augen gesehen.
Diane pflegte einen riesigen Kreis von Freunden und Bekannten. Sie hatte nie eine besondere Liebschaft erwähnt, aber sie erweckte deutlich den Eindruck, nicht gerade im Zölibat zu leben. Und jetzt war ein Mann auf dem Weg nach oben, der offenbar öfters vorbeikam.
Diane verschwand mit dem leeren Mixerkrug in der winzigen Küche, und gleich darauf hörte man wieder das Eis unter den Klingen knirschen. Dann klingelte es. Annie stand
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