Die Farbe Der Leere
bereits drei Fallbetreuer gehabt.
Lamars Pflegeeltern erklärten dann, er müsse zu seiner eigenen Sicherheit woanders untergebracht werden. Die Pflegemutter wurde im Bericht mit den Worten zitiert: »Manche Kinder sind eben so. Sie stehen einfach nicht für sich ein. Das ist traurig, aber natürlich sind sie dann immer die Opfer.«
Sie hatte sich auch über Lamars Bettnässen beklagt. »Er ist zu alt für solchen Quatsch.«
Alarmiert hatte das Amt für Kindeswohl eine psychologische Begutachtung veranlasst. Der Bericht hielt als Resultat der Begutachtung fest, dass Lamar sowohl an einer Sozialphobie litt, als auch Lernstörungen aufwies und in einer Fantasiewelt lebte. Der Psychologe hatte missbilligend vermerkt, dass Lamar fast seine gesamte Freizeit mit Zeichnen verbrachte.
Lamar wurde zur stationären Behandlung in eine jugendpsychiatrische Einrichtung überführt. Die Berichte ließen durchblicken, dass seine Eltern ihn nicht ein einziges Mal besuchten oder anriefen, ungeachtet eines regelrechten Bombardements von Briefen, in denen Lamar sie anflehte, ihn nach Hause zu holen.
Der nächste Bericht betraf einen Vorfall, bei dem vier ältere Jungs Lamar in einem Waschraum der Einrichtung vergewaltigt hatten. Die Anklagen gegen sie wurden fallen gelassen, da Lamar sich weigerte auszusagen.
Dann folgte eine große Lücke in den Eintragungen. Offensichtlich war ein weiterer Fallbetreuer aus dem Dienst geschieden und längere Zeit vergangen, ehe ein Nachfolger den Fall übernahm. Der nächste Eintrag berichtete von einem signifikanten Wachstumsschub. Lamar war jetzt groß für sein Alter. Sein Asthma, kontinuierliches Thema aller früheren Berichte, war offensichtlich abgeklungen. Der Sozialarbeiter beschrieb Lamar als selbstsicher und charismatisch, wiewohl es nicht erhärtete Hinweise darauf gab, dass er jüngere und kleinere Jungs im Erziehungsheim tyrannisierte.
Anscheinend hatte er sich gut genug herausgemacht, um zurück in die Bronx verlegt zu werden, ins Robert-Leffler-Jugendheim. Es fand sich keinerlei Erwähnung seiner Zeichnerei, ebenso wenig war noch von Gewalttätigkeiten die Rede, sei es als Opfer oder Täter.
Einigen Berichten zufolge war er höchst charmant. Andere bezeichneten ihn als skrupellosen Manipulator.
Lamar schloss die Highschool nicht regulär ab. Irgendwie schien er nie rechtzeitig alle Arbeiten einzureichen, obwohl das wenige, was er abgab, als herausragend bewertet wurde. Er wurde als hochintelligent eingestuft. Ein Sozialpädagoge bezeichnete ihn als begnadet.
Irgendwann bekam er ein externes Highschooldiplom. Er schien mühelos Arbeit zu finden, und jeder folgende Job war besser bezahlt und erforderte ein höheres Maß an Verantwortung als der vorangegangene. Er begann Kurse an der Abendschule zu belegen.
Zu dieser Zeit war Lamar so weit, aus der Obhut staatlicher Fürsorge entlassen zu werden. Er verdiente genug Geld, um über die Runden zu kommen, und hatte eine Wohnung in einem Mietshaus aufgetrieben, wo er gegen einen Mietnachlass kleinere Hausmeisteraufgaben übernehmen konnte. Wie George Jackson gesagt hatte, sah es aus, als hätte Lamar Hicks eine der seltenen Erfolgsgeschichten zuwege gebracht.
Fall abgeschlossen.
Katherine sah auf die Uhr. Sie hatte stundenlang gelesen. Wieder einmal hatte sie Annies Gehen kaum bemerkt.
Als sie zum Waschraum ging, nahm sie ihre Handtasche mit, verschloss aber die Bürotür nicht. Es war ja nicht so, als gäbe es hier etwas von Wert, das zu stehlen sich lohnte.
Doch als sie den Flur hinunterging, kam ihr zu Bewusstsein, dass sie um diese Zeit durchaus die einzige Person im ganzen Stockwerk sein konnte. Es war vollkommen still. So schnell, wie es ohne rennen ging, eilte sie zu ihrem Büro zurück.
Als sie an den Fahrstühlen vorbeikam, sah sie Kim Su auf eine Abwärtsfahrt warten.
»Hallo«, sagte sie. »Würde es Ihnen was ausmachen, eine Minute zu warten? Ich hol schnell meine Sachen, und wir gehen zusammen?«
»Sicher«, sagte Kim. »Ich warte, keine Eile.«
Aber Katherine beeilte sich dennoch, schnappte sich ihre Aktentasche und schloss die Tür hinter sich ab.
Kim war noch da. Auf dem Weg nach unten schwätzten sie freundlich.
»Sie arbeiten viel zu lange, meine Damen«, sagte der Wachmann, der ihnen unten im Haupteingang die Tür aufschloss, um sie hinauszulassen.
Sie gingen noch bis zur nächsten Straßenecke zusammen. Dann steuerte Kim auf die U-Bahnstation zu, und Katherine bog ab in die Einfahrt zur Garage.
Sie
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