Die Farbe der Liebe
Abschiedsparty sein, meinst du nicht?«
Siv brachte das Seil, an dem sie hing, zum Schwingen.
»Ich glaube nicht, dass Aurelia die Gesellschaft von Jahrmarktleuten guttut«, erwiderte Siv. »Dann denkt sie nur wieder an den geheimnisvollen Unbekannten.«
Seit Aurelia nicht mehr durch die Schule abgelenkt wurde und lediglich am Samstagmorgen und an einem Nachmittag in der Woche arbeitete, versank sie immer tiefer in Lethargie und Depression. Weil sie fürchtete, ihre Pflegeeltern mit der Geschichte über ihren geheimnisvollen Wohltäter zu beunruhigen, hatte sie Gwillam Irving, den Anwalt, überredet, Laura und John mitzuteilen, sie hätten von einem entfernten Verwandten geerbt. Es war eine Notlüge, wahrscheinlich gar nicht mal so weit von der Wahrheit entfernt. Hocherfreut hatten ihre Pflegeeltern daraufhin einen beträchtlichen Teil des Geldes für Aurelias Überseeaufenthalt und das Studium bereitgestellt, statt für diesen Zweck eine kleine Hypothek aufzunehmen, wie sie es ursprünglich geplant hatten.
Der freundliche Rechtsanwalt hatte sich gern auf dieses kleine Täuschungsmanöver eingelassen, ja, er hatte Aurelia dafür sogar regelrecht ins Herz geschlossen. Sie war nicht nur jung und hübsch, sondern hatte auch noch eine spannende Geschichte zu bieten. Das Mädchen brachte eine erfrischende Abwechslung in das wenig aufregende Geschäft, die Gelder von Erben und sonstigen Begünstigten zu verwalten, bei dem er es allzu oft nur mit egoistischen und spießigen Langweilern zu tun hatte.
Aurelia war allerdings nicht sonderlich wohl dabei, ihre Pflegeeltern angelogen zu haben. Außerdem mischte sich unter ihre Vorfreude auf die anstehende Reise ins Ausland auch immer wieder das unbestimmte Gefühl, sie solle besser doch in England bleiben, als wäre sie durch den Kuss des Fremden an ihre Heimat gebunden.
Als Siv einmal mit Ginger allein war, fragte sie ihren Freund: »Glaubst du, diese beiden Geschichten hängen irgendwie zusammen?« Ginger war außer ihr der Einzige, der über Aurelias geheimnisvollen Geldsegen und über die Sache mit dem Kuss Bescheid wusste.
»Das Geld kann doch nur von einem Verwandten kommen«, erwiderte er. »Vielleicht von ihren wirklichen Eltern. Und dann wäre der Typ, der sie geküsst hatte, ja … Nein, das ergibt keinen Sinn. Aber wie auch immer«, schloss er, »es würde ihr guttun, nicht mehr so viel darüber nachzugrübeln.«
Siv konnte ihm nur beipflichten. Aurelia ließ sich schließlich überreden, zur Party mitzukommen, obwohl ihr überhaupt nicht nach Feiern zumute war.
Sie würden erst am Abend nach Bristol aufbrechen. Die beiden Mädchen hatten wie jeden Samstagvormittag gearbeitet und dann eine halbe Ewigkeit ihre Outfits zusammengesucht. Es sollte schließlich eine Kostümparty werden.
»Märchen? Ist das etwa ein Motto für gestandene Kerle?«, hatte Siv Ginger gefragt, als er ihr den Dresscode angekündigt hatte.
»Das sind eben keine gewöhnlichen Kerle«, hatte Ginger erwidert.
Als einer der verlorenen Jungs aus Peter Pan trug Siv abgeschnittene braune Leggins und hatte sich ihr kurzes Haar zu einem Iro gegelt. Aurelia, die als Rotkäppchen ging, hatte den größten Teil des Nachmittags damit zugebracht, Ringellocken in ihre Haare zu drehen.
»Mist«, sagte sie mit einem grimmigen Blick in den Spiegel. »Ich sehe eher aus wie Goldlöckchen.« Die Brennschere hatte einen blonden Ton aus ihrem eigentlich dunkelblonden Haar hervorgelockt. Aber vielleicht lag es auch nur am Licht, dass ihre Locken auf einmal viel heller wirkten.
»Dann hätte ich mich als einer der drei Bären verkleiden können«, sagte Siv. »Aber das wäre nicht halb so lustig.« Sie öffnete das Fenster und zielte mit ihrem Spielzeugbogen auf Gingers altes Auto, das gerade in die Einfahrt bog. Er war aus London gekommen, um sie abzuholen. Sie hatten verabredet, eine malerische Strecke entlang der Südküste zu nehmen und sich ein schönes Wochenende zu machen.
»He, pass auf«, rief er.
»Wenn ich gewollt hätte, hätte ich getroffen«, gab sie zurück, als er sich bückte und den Pfeil aufhob, der das Auto nur knapp verfehlt hatte.
Aurelia hatte nur selten Gelegenheit, mit einem Auto zu fahren. Ihre Adoptiveltern waren eingefleischte Umweltschützer, die auf ein Auto verzichteten und hauptsächlich mit dem Fahrrad oder dem Zug unterwegs waren. Doch kaum lagen die belebten Straßen hinter ihnen, wurde Aurelia schläfrig. Bald versank sie in einen Dämmerschlaf, murmelte vor sich hin
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