Die Farbe der Liebe
lange am Trapez, besitze aber eine gute Grundlage aufgrund der vielen Jahre, die sie sich durch Ballettstunden und Stepptanzübungen gequält habe. Eigentlich fehle ihr nur noch eine eindrucksvolle Nummer für die Aufnahmeprüfung, und mit etwas Glück könne sie ein Stipendium ergattern.
Ginger hatte sich zunächst für Aurelia interessiert, sich aber in dem Augenblick in Siv verguckt, als der erste Schluck Schokolade einen braunen Schnurrbart auf ihre Oberlippe gezaubert hatte. Spontan hatte er ihn ihr fortgeküsst und war von dem Geschmack nach Zimt und anderen Gewürzen wie betört gewesen. Völlig hingerissen hatte er im Stillen Aurelia recht gegeben, als sie gesagt hatte, das Getränk schmecke nach Liebe.
Siv war genau die Richtige für Ginger. Ihre Lebendigkeit und Spritzigkeit faszinierten ihn. Wenn sie sich bewegte, hatte sie etwas von einem Kobold, etwas Magisches, und er konnte sich gut vorstellen, dass das Blut in ihren Adern röter und wärmer war als das gewöhnlicher Menschen. Aber er spürte auch ihre Rastlosigkeit, und ihm war bewusst, dass alles, was er an ihr liebte, genau das war, was sie von ihm fortführen würde. Ihr Appetit aufs Leben war einfach viel zu groß, um es in einem verschlafenen Küstenstädtchen auszuhalten.
Aurelia war das glatte Gegenteil. Sie hatte eine kühle, sanfte, verträumte Art, die sich bei ihr in allem zeigte, von der Blässe ihrer Haut bis zu dem dunkelblonden Haar, das ihr wie ein Wasserfall über den Rücken fiel. Die beiden Mädchen ergänzten sich wie Yin und Yang.
Und so begann eine lange Serie von Gesprächen zwischen Sivs Eltern und Aurelias Pflegeeltern. Am Ende waren sie sich einig, dass Siv wahrscheinlich so oder so nicht zu halten sein würde, und dann solle Aurelia sie begleiten.
Einen Monat später besaßen die beiden Mädchen Flugtickets, und ihre Koffer waren gepackt. Man war übereingekommen, dass sie sich ein Jahr Auszeit gönnen sollten, ehe Aurelia sich endgültig für ein Studienfach entschied und Siv die Aufnahmeprüfung der School of Performing Arts in Angriff nahm. Ihre Eltern wollten ihr einen Versuch zugestehen, und falls es nicht klappte, sollte sie ein Medizinstudium aufnehmen oder ein anderes »praktisches« Fach wählen.
Bei einer Tanzlehrerin in San Francisco, die Ginger über seine Jahrmarktskontakte aufgetrieben hatte, waren für die beiden Mädchen Zimmer gemietet und zusätzliche Stunden für Siv vereinbart worden. Die Frau hatte früher an der berühmten Waganowa-Ballettakademie in Sankt Petersburg unterrichtet. Aurelia und Siv sollten zu ihrem Unterhalt beitragen, indem sie den wenigen verbliebenen Schülern dieser Lehrerin Unterricht erteilten und sich um die alte Villa kümmerten, die sie am Rand von Oakland bewohnte.
Siv zog die Nase hoch. Sie waren in der Garage ihrer Eltern, Ginger schnitzte kleine Holzfiguren, und Siv hing kopfüber wie eine Fledermaus an einem dicken Seil. Es roch nach frischen Holzspänen.
»Und kommst du jetzt mit nach Frisco?«, fragte sie. Eine Träne trat aus ihrem Auge, konnte ihr jedoch, kopfüber, wie sie hing, nicht über die Wange rinnen. Sie blinzelte sie fort.
Ginger hielt inne und schloss die Finger fester um den Messinggriff des Messers, das er in seiner linken Hand hielt.
»Darüber haben wir doch schon gesprochen«, sagte er.
»Du könntest mit dem Schiff fahren«, erwiderte sie.
»Wir werden sehen«, antwortete er und schnitzte bedächtig an dem Gesicht seiner Holzfigur weiter.
Ginger litt unter schrecklicher Höhenangst. Deshalb hatte er England noch nie verlassen und verspürte auch keinen Ehrgeiz, wie die meisten seiner Freunde auf dem Jahrmarkt einen besseren Job zu ergattern, etwa als Stelzenläufer oder in einem der gut bezahlten Wartungstrupps, die sich um das Riesenrad kümmerten und auf schwankenden Hebebühnen standen oder sich an Haltegeschirren aus luftiger Höhe abseilten.
Aber genau diese Angst war auch der Grund seiner Faszination für Gerüste und Takelagen – allerdings immer nur vom sicheren Boden aus. Er war ein richtiger Knotenexperte und verstand es sehr geschickt, seinen Kollegen, die in luftiger Höhe arbeiteten, zusammengerollte Seile zuzuwerfen.
»Ein paar Freunde vom Jahrmarkt wollen nächstes Wochenende eine Party geben. In Bristol«, wechselte Ginger geschickt das Thema. »Es werden auch ein paar Artisten da sein, die in Amerika ausgebildet worden sind. Sie machen eine Tournee in Großbritannien. Wollt ihr zwei nicht mitkommen? Das könnte doch eure
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