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Die Farbe der Liebe

Die Farbe der Liebe

Titel: Die Farbe der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vina Jackson
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und zuckte immer wieder. Siv und Ginger, die ganz in den schweren Dubstep-Beats aus der Audioanlage aufgingen, bekamen davon nichts mit.
    Aurelia fuhr schreiend hoch, als Siv sie an der Schulter rüttelte.
    »Wir sind da, Süße. Alles in Ordnung mit dir?«
    »Na klar.« Aurelia zwang sich zu einem Lächeln. Ihr Gefühl, beobachtet zu werden, war stärker geworden; inzwischen glaubte sie sogar, in ihren Träumen verfolgt zu werden. Die Ereignisse der letzten Monate hatten eindeutig an ihren Nerven gezerrt.
    Als sie sich mit der Zunge über die trockenen Lippen fuhr, schmeckten sie nach Granatapfel.
    Da war sie wieder, die Erinnerung an den Kuss. An den Kuss in der Dunkelheit.

FRANKREICH 1788
    Als die Ungerechtigkeit immer stärker an den Grundfesten der französischen Gesellschaft rüttelte, brachen überall im Land Unruhen aus.
    Das Ballkomitee hatte ursprünglich geplant, das Fest in einem kleinen Schloss auszurichten, das einem Verwandten von einem der Komiteemitglieder gehörte und zu Pferd gerade mal eine Stunde von Paris entfernt war. Doch einflussreiche Berater am Königshof hatten sich dafür ausgesprochen, lieber einen entlegeneren Ort zu wählen, um nicht zu viel Aufsehen zu erregen. Daher hatten sie sich für ein Anwesen im Süden ein Stück flussabwärts der zerstörten Brücke von Avignon entschieden; es war die Sommerresidenz eines entfernten Cousins des Königs, die dem Komitee uneingeschränkt zur Verfügung stand. Damit der notwendige Schleier der Verschwiegenheit über die Ereignisse gebreitet werden konnte, sollte der dort arbeitenden Dienerschaft für mehrere Wochen freigegeben werden. Mitarbeiter des Balls würden ihre Aufgaben übernehmen.
    Das Grundstück mit den feudalen Gebäuden lag abgeschieden und war mit hohen, von wildem Wein und Glyzinien überwucherten Mauern umgeben. So würde die Ankunft der Gäste, der Künstler und des Personals, das für die Vorbereitungen des großen Abends angeheuert war, relativ unbeachtet bleiben.
    Oriole war schon einige Monate zuvor nach Avignon gebracht worden. Sie wohnte im Haus eines Freundes des Balls, nur einen Steinwurf von den mächtigen Mauern des Papstpalasts entfernt. Je näher die herbstliche Tagundnachtgleiche rückte und damit der Abend des jährlich stattfindenden uralten Rituals, desto eifriger widmete man sich ihrer Ausbildung und ihrem Äußeren.
    Die Tradition des Balls reiche, so wurde erzählt, zurück bis ins alte Ägypten zu Zeiten Kleopatras; doch kein Teilnehmer kannte die wahren Ursprünge des Bacchanals. So wusste man nicht, ob es zum ersten Mal von abtrünnigen Priestern in einem der vielen in der Wüste liegenden Tempel gefeiert wurde oder ob es ein heidnisches Ritual aus einer anderen Kultur war.
    Wann immer Oriole nicht gerade auf den Ball vorbereitet wurde, verbrachte sie ihre freie Zeit mit Sticken oder widmete sich dem Spiel auf der Harfe. In beidem war sie von zahlreichen Lehrerinnen unterwiesen worden, die ihr wie die anderen schattenhaften, meist schweigenden Frauen, die sie bis zu ihrem Schicksalstag rund um die Uhr beaufsichtigten, samt und sonders maskiert gegenübertraten. Sie alle gehörten zu den verlässlichen Anhängern des Balls, auf deren besondere Kenntnisse man zurückgriff, wann immer es das Fest erforderte. Diese verschworene Gruppe von Fremden kümmerte sich um Orioles Bedürfnisse, schärfte ihre Sinne und ihren Geist und übte mit ihr jede Einzelheit des bevorstehenden Rituals ein. Dass keine der Ausbilderinnen bei ihren Unterweisungen, Ratschlägen und Übungen je auch nur ansatzweise über die notwendigen Floskeln hinausging und ein bisschen Nähe entstehen ließ, bereitete Oriole größten Kummer. Sie fühlte sich einsam. Ihre Kindheit und das Leben, das sie genossen hatte, ehe man sie erwählte, waren unterdessen nur noch eine blasse Erinnerung.
    Seit ihrer Ankunft hatte sie sich stets in ihre besten Gewänder kleiden müssen: schwere, kunstvoll bestickte und golden abgesteppte Roben mit einer engen Korsage, die in der Taille so eng geschnürt waren, dass sich Oriole selbst in ihren Mußestunden kerzengerade halten musste. Das Haar fiel ihr in einer Kaskade goldblonder Ringellocken über die Schultern. Die Zofen brauchten morgens immer eine Ewigkeit für ihre Frisur, nachdem Oriole ihre Mähne allabendlich vor dem Zubettgehen mit über hundert Strichen ausbürstete. Es war, als sollte sie stets zur Repräsentation bereit sein oder müsste gleich bei Hofe erscheinen. Die eng geschnürten ledernen

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