Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)
nicht da, oder er hielt sich bewusst raus.
»Hör mal, Alter«, versuchte Ted es erneut. »Denkst du, sie gehört dir? Wir leben in einem freien …«
»Halt die Schnauze, verdammt noch mal!« schrie O. ihn an. »Mit dir rede ich nicht.«
Ich glaubte aber auch nicht, dass es ihm viel bringen würde, mit Eerie zu sprechen. Obwohl sie das Gesicht in beiden Händen vergraben hatte, konnte ich die Einstichstellen sehen, die sich wie Bänder über ihre Unterarme zogen, und ich wusste aus meinen Tagen mit Louie: Wenn jemand so weggetreten ist, hört er das Dope reden, aber ansonsten so gut wie nichts mehr.
O. sprach nicht auf sie ein. Er sang. Oder er hatte schon vorher gesungen, denn weder Laurel noch ich hörten ihn anfangen. Irgendwie hielt er plötzlich auch ein Instrument in den Händen und spielte. Sang er einen Text? Waren da Worte? Es war, als würden seine Finger über unsere Eingeweide fahren. Aus seinem Mund kam eine goldene Kugel aus Licht.
Eerie hob den Kopf und sah ihn an. Sie strich sich das Haar nach hinten. Ihre Tränen trockneten auf den Wangen. Obwohl sich ihre Haut inzwischen straff über die Schädelknochen spannte, war ihre Schönheit noch immer beängstigend. Ich begriff, dass O.s Lied sie mit Energie durchdrang – mit der Kraft, aufzustehen. Auf ihn zuzugehen.
Keiner achtete auf Teds Gemurmel:
Sollsiedochgehen-siekannruhiggehenichhaltsienichtaufwennsiewegwill
Da sah ich, dass O. und Eerie sich im Geiste umarmten, obwohl ihre Körper sich nicht berührten. Als sie näher kam, lächelte O., wandte sich um und ging zur Tür hinaus, zog sie mit sich, zart, aber bestimmt, in einem gewissen magnetischen Abstand. Laurel und ich traten auseinander, um sie durchzulassen. O.s Lied strömte noch immer von seinen Lippen. Er trat von dem Steg in die Dunkelheit, und Eerie folgte ihm.
Ein kleines eifersüchtiges Flimmern erwachte zwischen mir und Laurel, als O. und Eerie zwischen uns hindurchgingen. Dann war es vorüber, und wir blickten beide gemeinsam in die Richtung, in die sie gegangen waren.
Hinter uns kicherte Ted immer lauter.
Schau dich nicht um!
Jene Nacht war wolkenverhangen und stockfinster, und als sie vom Steg heruntertraten, hätten sie genauso gut in den Weltraum fallen können. Wir konnten nichts sehen außer den Glanz von O.s Lied, das in der Dunkelheit allmählich zu einem Lichtpunkt zusammenschrumpfte. Er musste seinen Wagen weit weg geparkt haben. Ich konnte nur so gerade eben noch ein paar andere Zeugen ausmachen, diejenigen, die zufällig helle Kleidung trugen, reglos wie Grabsteine, bleich wie Schatten. Und so sah niemand von uns, ob O. sich umschaute oder nicht.
44
Ich hatte Pauleys Gewehr in einem langen rechteckigen Koffer bekommen, wie eine Gitarre, mit weich gefütterten Fächern für das Gewehr und das Zielfernrohr und das Nachtsichtgerät und den Schalldämpfer, ein großes unhandliches Teil, so groß wie eine Weinflasche. Draußen in der Wüste hörte sowieso niemand etwas, doch eines Nachts nahm ich den Schalldämpfer trotzdem mit.
Er wog bei Weitem nicht so viel wie eine Weinflasche, aber er veränderte die Tarierung der Waffe. Ich übte, bis ich mich an den Unterschied gewöhnt hatte, suchte mir Ziele, feuerte aber nicht auf sie. Eine Steinspitze oder ein abgebrochener Ast. Dinge, die schon tot waren. Die nie gelebt hatten.
Dann, Bewegung. Ich pirschte gerade durch einen Bestand von Kugelkakteen, so hoch, dass sie mir bis zur Schulter reichten, als die Fledermäuse zu fliegen begannen. Ein halbes Dutzend, noch dazu große, Faltlippenfledermäuse, die manche auch Bulldoggfledermäuse nannten. Im Zielfernrohr waren sie nur ein phosphoreszierendes grünes Flackern, Blätter, die wie Feenfeuer leuchteten, während sie herabflatterten. Die jähen, wirren Bewegungen machten es schwer, eine einzelne Fledermaus im Visier zu behalten. Sie jagten quer hindurch, und weg waren sie.
Ich nahm das Gewehr runter und beobachtete die Fledermäuse mit bloßem Auge. Schwarze Fetzen wischten über die Lichtflecken am Horizont, dort, wo Las Vegas war.
Mit einer unsichtbaren, stummen, tödlichen Berührung zugreifen …
Ich wandte mich ab von den Lichtflecken und ging weiter, suchte nach Dunkelheit, doch die Farbe der Nacht blieb alkalisch bleich.
Es gab Lücken zwischen den Steinen, die sich vom Tafelberg herab ergossen hatten. Dunkelheit war in diesen Spalten, unregelmäßige höhlenartige Leere. Schwarze Nacht, alte Nacht … Aus einer davon tauchte der Kojote auf. Ich
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