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Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)

Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madison Smartt Bell
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Laurel immer einsetzte, um mit irgendwas durchzukommen. Aber O. schien vor der Berührung zurückzuschrecken, also ließ ich ihn los und bedeutete ihm, mit reinzukommen.
    »Komm«, sagte ich. Im Innern der Lodge zeigte ich ihm alle Ecken, wo Eerie nicht war, einschließlich D.s achteckigem Raum unterm Dach. Ein geblümtes Laken hing oben am Ende der Treppe vor der Türöffnung und wellte sich leicht in dem Luftzug, der von allen Seiten hereinströmte. Ich blieb stehen, um zu lauschen, hörte aber nichts und zog dann eine Seite des Lakens zurück.
    »Pass auf, dass er dich nicht sieht«, flüsterte ich O. ins Ohr. Nicht dass es D. geschert hätte, gesehen zu werden, aber wenn er gewusst hätte, dass O. in der Nähe war, hätte er all seine Energie dafür eingesetzt, ihn dazubehalten und für irgendwas zu benutzen. Da ich nicht wollte, dass das passierte, musste ich überlegen, was ich als Nächstes tun würde.
    Wie auch immer, D. schlief, oder er tat so oder war ganz nach innen gekehrt – die blinde Maske bedeckte sein Gesicht, während leere Augenhöhlen rückwärts zu den Sternen rasten … Man hätte auch sagen können, dass sein Gesicht mit geschlossenen Augen friedlich aussah, sogar gütig. Sein Handrücken lag auf Laurels nacktem Bauch, knapp über dem Ansatz der krausen, zimtbraunen Haare zwischen ihren Beinen, und hob und senkte sich leicht mit ihrem Atem im Schlaf.
    Ich wartete am Fuß der Treppe, bis O. das Laken wieder zurückfallen ließ und erleichtert zu mir herunterkam. Aber ich versuchte nicht wieder, seine Hand zu nehmen. Ich würde es auf meine Weise machen müssen, nicht auf Laurels.
    Ich trat betont nah an O. heran und lächelte zu ihm auf. Diesmal wich er nicht zurück. O. war groß, einen guten Kopf größer als ich, deshalb musste ich den Kopf nach hinten legen, um seinen Blick aufzufangen.
    »Siehst du?« setzte ich an. »Es ist …«
    Es gab damals ein Codewort, das alles abdeckte. Es bedeutete, dass Handlungen keine Konsequenzen hatten, dass wir alle tun konnten, wonach uns gerade war; du machst, was du willst, und ich mach, was ich will, und wenn wir uns zufällig begegnen, ist das schön … Heute im 21. Jahrhundert drückt
cool
dergleichen aus, aber damals:
    »… alles locker«, sagte ich zu O., und anscheinend waren das genau die richtigen Worte, damit er die Hand nach mir ausstreckte.

40
    Als es vorbei war, fast vorbei, war ein Baby noch am Leben, im Bauch einer der toten Frauen auf dem Boden des Hauses im Canyon. Ich weiß das, weil ich sah, wie es sich bewegte. Und ich musste an Semele denken, deren sterblicher Körper im Feuer und Glanz des Zeus verbrannte; und daran, wie dieser Gott den Dionysos-Fötus aus dem verkohlten Fleisch seiner toten Geliebten nahm und in seinen eigenen Schenkel einnähte, bis die Zeit reif war für eine zweite Geburt.
    Ich wollte zurückgehen und das Baby nehmen, es befreien, es austragen. Doch da verließen wir bereits das Haus, hastig jetzt – und als ich mich umwandte, packten die anderen meine Oberarme und zogen mich weg.

41
    Sie hieß Mary Alice, und sie war Cheerleaderin, wenn auch nicht so eine, die die meisten Blicke der Sportfans auf sich zog. Sie war kleiner als die anderen und stämmiger, was deutlich wurde, wenn sie jauchzend in die Luft sprang und ihre Pompons schwenkte und die Falten ihres weinroten Rockes aufflogen, um den gelben Satinschlüpfer aufblitzen zu lassen. Wenn sie nicht als Cheerleaderin auftrat, trug sie gern weiße Blusen, die eine Spur zu eng waren. Sie hatte dann eine niedliche Speckrolle über dem Rockbund und während der stickigen Tage im Frühherbst eine Ahnung von Schweißflecken unter den Armen. Ihre kleine rosa Nase war nach oben gebogen wie ein Schweinerüssel, und ein schmales vergoldetes Kruzifix hing in der Mulde ihres Halses, den ich ihr, ich gebe es zu, manchmal gern aufgeschlitzt hätte.
    Das Mom-Ding war froh, dass Terrell endlich
mit einem Mädchen ging
– froh und erleichtert und, wenn sie mich ansah, siegestrunken, so schien es. Sie schielte dann mit ihrem selbstgefälligen Gesichtsausdruck zu mir herüber, schnaubte Rauch aus beiden Nasenlöchern, der ganze Kopf ein Bündel von Lockenwicklern, eingepackt in ein knittriges Polyestertuch, und ihr Blick zu mir drang durch die verschmierte Katzenaugenbrille, die mit einer Glasperlenkette an ihrem mageren Hals befestigt war.
    Meist ging ich dann raus und ließ die Fliegengittertür knallen, verfolgt vom Jaulen der Türfeder und dem Jaulen ihrer Stimme. Durch

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