Die Farbe der See (German Edition)
können!«
Ole wandte sich um und ging zur Tür. Dort drehte er sich ungeduldig um.
Sigur war ihm nicht gefolgt. Stattdessen kniete er immer noch am Boden und suchte etwas. Linas Verlobungsring! Als er ihn entdeckt hatte, klaubte er ihn auf und ließ ihn hastig in seiner Tasche verschwinden.
»Ich hab gesagt, du sollst dich beeilen!«, fuhr Ole ihn an und setzte hinterher: »Und komm bloß nicht auf die Idee, uns zu folgen! Sie ist fertig mit dir! Und wenn ich dich jemals wieder in ihrer Nähe sehe, werde ich das Messer in der Art verwenden, die du eben erwartet hast!«
Der riesige blonde Kerl starrte eingeschüchtert zu Ole auf. Er hatte ehrliche Angst. Was sicherlich auch angebracht war. Denn in diesem Augenblick war es Ole mit seiner Drohung im wahrsten Sinne des Wortes todernst.
10. Kapitel
TIEFBLAU
Die Wellen draußen im Skagerrak waren von einem vollen, dunklen Blau. Eine Farbe wie sie sonst nur bei dem sehr viel tieferen Wasser eines Ozeans vorkam. Lange Seen liefen mit hocherhobenen, weißen Kämme aus Westen heran, rammten sich donnernd gegen die äußeren Schären und warfen wütende Gischtfontänen nach oben, die der Wind über die Felsen wehte und das Wasser jenseits der Brandungszone mit einem feinen grauen Schaumteppich überzog.
Die Brise hatte, wie von Ole erwartet, weiter zugelegt und wehte nun mit strammen sechs Beaufort. Hier drinnen, im geschützten Schärenfahrwasser, war von den Wellen dort draußen nur wenig zu spüren – bis auf einen leichten Schwell, der durch die Lücken in der Schärenmauer hereindrückte und das Wasser zwischen den inneren Inseln auf und ab schwappen ließ in einem Takt, der weit draußen, auf hoher See, geschlagen wurde.
Der kräftige Wind hingegen wehte ungehindert über die flachen Felsen hinweg. Aber er war Ole mehr als recht. Sie hatten alle Segel gesetzt und die Lotten kam auch ohne die Hilfe des altersschwachen Motors schnell voran. Wann das Schnellboot zurück nach Käringön kommen würde, war unklar. Aber vermutlich würden sie jede einzelne Meile brauchen können, die sie bis dahin zwischen sich und ihre Verfolger legen konnten.
»Warum hast du ihn laufen lassen?«, fragte Lina tonlos.
Als sie den Hafen von Käringön bereits verlassen hatten, hatte sie noch einmal zurückgeblickt und Sigur gesehen, wie er über die Felsen lief und hastig in eines der Ruderboote stieg.
Ole zuckte die Achseln.
»Weil sie ihn hängen würden. Wolltest du das?«
Sie überlegte einen Augenblick, dann senkte sie den Blick und schüttelte den Kopf.
»Nein«, murmelte sie. »Entschuldige.«
Das Fahrwasser voraus war eng und von kargen Schären gesäumt. Bis auf das Gurgeln des Wassers am Ruderblatt, das Rauschen des Windes in der Takelage und ein paar Möwen, die kreischend über die Felsen strichen, war nichts zu hören. Zum Glück auch nicht achteraus, von wo Ole das Motorengeräusch des Schnellbootes zu hören befürchtete.
Lina saß, die Beine an den Körper gezogen, auf der Cockpitbank in Lee und blickte abwesend der schaumigen Spur ihres Kielwassers hinterher. Ihr Gesicht war verschlossen und verriet ihre abgrundtiefe Enttäuschung. Der Mann, der bis heute Morgen ihre Zukunft gewesen war, hatte sie nicht nur schmählich im Stich gelassen, sondern um der eigenen Haut willen sogar verraten. Vermutlich würde sie lange brauchen, um darüber hinwegzukommen, dachte Ole. Er würde sich gedulden müssen.
Nach drei Meilen kamen linker Hand voraus die ersten roten Ziegeldächer von Gullholm in Sicht. Mit einem Mal merkte Ole, wie hungrig er war. Außer ein paar Kanten trockenes Brot und einem salzigen Stück Stockfisch hatten sie seit gestern nichts Vernünftiges gegessen.
Ole überlegte gerade, ob sie es riskieren konnten, hier Proviant und Trinkwasser zu besorgen, als er es hörte: ein schwaches Wummern, das der Wind herantrug, noch sehr weit entfernt, aber unverkennbar ein schwerer Schiffsdiesel.
Auch Lina saß mit einem Male kerzengerade da.
»Das Schnellboot?«, fragte sie.
Ole nickte. Rasch griff er nach der Seekarte.
Hinter Gullholm öffnete sich das enge Fahrwasser und gabelte sich. Backbord führte es entlang der äußeren Schären auf direktem Wege nach Norden, vorbei an einer größeren Stadt namens Lysekil, und weiter nach Smögen, ihrem Ziel. Hier gab es keinerlei Möglichkeiten, sich zu verstecken.
An Steuerbord lag der Ellösefjord, eine tiefe Bucht, an deren nordöstlichem Ende sich das Fahrwasser stark verengte und wiederum in zwei Arme aufteilte.
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