Die Farbe der See (German Edition)
schaumigen Spur des Kielwassers orientieren, die die Schiffsschrauben ins Wasser geschlagen hatten. Und diese wurde zusehends schwächer, verwischt von Wind und Wellen.
Er trat heftiger mit den Beinen, versuchte den Kopf möglichst weit über die Oberfläche zu bekommen. Nirgendwo war etwas von ihr zu sehen.
»Lina!«, schrie er und wiederholte es mehrmals, bis ihm eine Welle das Maul stopfte und er zu husten anfing.
Eine erstaunliche junge Frau. Mit jedem Schwimmzug, den er tat, wiederholten sich die Worte des Konteradmirals in seinem Kopf. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie über Bord springt und dann einfach ertrinkt. Diesmal war sie nicht gesprungen.
Ole begann in der Dunkelheit die Richtung zu verlieren, halb blind vom Salzwasser und seiner eigenen, rasch anwachsenden Verzweiflung.
Jetzt war der einzige Orientierungspunkt, den er noch hatte, der Leuchtturm zu seiner Linken. In diesem Sektor des Leuchtfeuers war sein Lichtstrahl rot. Ein Rot, das kälter und härter war als das von gestern Morgen und weder die Farbe der Liebe, noch die des Blutes hatte. Eher die der Verzweiflung.
Mit einer Wiederkehr von zwanzig Sekunden flutete es über ihn hinweg, zeigte ihm leere Wellen um ihn herum und nahm ihm von Mal zu Mal mehr von der Hoffnung, sie noch wiederzusehen.
Irgendwann, Ole wusste nicht mehr, wie oft das Licht über ihn hinweggegangen war, hörte er doch noch ihre Stimme.
»Ole! Hilf mir!«
Er fuhr herum und konnte sie gerade noch sehen, bevor das Licht weitergewandert war. Sie befand sich dreißig Meter hinter ihm. Er war an ihr vorbeigeschwommen!
Mit hastigen Zügen kraulte er zurück. Beim Näherkommen sah er zu seinem Entsetzen, dass sie kaum noch den Kopf über Wasser halten konnte.
»Bist du verletzt?«, rief er und griff nach ihr.
»Nein!«, hustete sie. »Die verdammte Kiste … zieht mich runter!«
Sie schlang ihren freien Arm um seine Schultern, und Ole spürte das Gewicht der Schatulle, das sie an der Sorgleine senkrecht in die Tiefe zog. Ole griff zu, und gemeinsam gelang es ihnen etwas besser, die Last zu halten.
Sie fanden eine Stelle zwischen den schroffen, schwarzen Felsen an der Nordseite der Insel, an der sie aus dem Wasser klettern konnten. Noch während sie den ersten halbwegs festen Tritt unter den Füßen hatten, fielen sie einander vor Erleichterung um den Hals. Und ließen eine sehr lange Zeit nicht wieder los.
»Komm!«, sagte Ole dann. »Wir müssen zum Boot und weg von dieser Insel. Ein neues Versteck finden, solange es noch dunkel genug ist!«
»Und wo?«, fragte Lina.
Ole überlegte.
Im Süden gab es nichts als offenes Wasser. Dort würden sie beim ersten Tageslicht wie auf dem Präsentierteller zu sehen sein.
Im Westen lag Nils’ U-Boot. Es hatte sich wohl kaum an der Jagd nach dem Motorboot beteiligt, weil es zu langsam und in den flachen Gewässern zwischen den Schären nur sehr eingeschränkt manövrierfähig war. Aber einfach abgedampft war es wohl auch noch nicht. Ole vermutete, dass es noch irgendwo dort draußen auf der Lauer lag.
Von Osten her wehte der Wind noch das zweifache Dröhnen der Motoren von Yacht und Schnellboot herüber. Sehr wahrscheinlich versuchten Lundegård und Askildsen mit ihren Schützlingen in Richtung Festland zu fliehen. Ole schätzte, dass es die Motoryacht in puncto Geschwindigkeit sehr wohl mit dem Schnellboot aufnehmen konnte. Wenn sie also nicht noch schwerer von den Kugeln aus Richards MG getroffen worden waren, und wenn sie zwischen den östlich von hier gelegenen Schären ihre Wendigkeit und den geringeren Tiefgang ausspielten, hatten sie durchaus eine Chance, in diese Richtung zu entkommen.
Aber genau deswegen war es für Ole und Lina viel zu gefährlich, ebenfalls zum Festland zurückzusegeln, zumal sie gegen den Wind hätten aufkreuzen müssen.
Blieb also nur die Flucht nach Norden.
»Wir versuchen es mit Storö«, erklärte Ole.
Die Hauptinsel der Väder-Inseln lag in nordnordöstlicher Richtung, nur knappe drei Meilen entfernt. Andererseits musste es bald hell werden, und es würde ein verdammter Wettlauf mit der Zeit werden!
Ole schulterte die Kassette mit den verfluchten Plänen, die das Schicksal ihnen scheinbar doch wieder aufbürden wollte, und half Lina, die steilen Felsen zu erklimmen. Dann überquerten sie, so schnell sie konnten, die Insel.
Es regnete nicht mehr, aber der Ostwind war unvermindert stark und ließ sie vor Kälte zittern. Sie waren nass bis auf die Knochen, und ihre Öljacken, die den
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