Die Farbe der See (German Edition)
stärker denn je.
Ole kannte Sigur vom Sehen. Ein Baum von einem Kerl, blond und ziemlich gut aussehend, wenn man die etwas zu eng beieinander stehenden Augen einmal abzog. Während der Regatta hatten sie nicht viel miteinander zu tun gehabt, und auch beim Essen im Club war Sigur nicht dabei gewesen. So hatte Ole ihn natürlich auch nicht mit Lina in Verbindung gebracht.
Verdammt, aber wie hatte er auch glauben können, so ein phantastisches Mädchen sei noch zu haben? Überhaupt, wie vermessen war es, aus einem Lächeln und einer winzigen Berührung abzuleiten, ihr Leben und seines könnten irgendetwas miteinander zu tun haben? Vermutlich würde er sie nie wiedersehen, und die grausame Wahrheit war, dass sie ihn vergessen haben würde, noch bevor sie in Dänemark an Land ging.
Zu seinen übrigen Schmerzen gesellte sich ein weiterer. Aber dieser tat viel mehr weh als die anderen und saß tiefer. In der Herzgegend.
»Ach, Junge!«, seufzte Rausch, der den Ausdruck in Oles Gesicht richtig deutete und ihm mit seiner Pranke mitfühlend den Unterarm tätschelte. »Wenn das all unsere Probleme sind …«
3. Kapitel
PURPUR
An diesem Abend hatte die See die Farbe von leuchtendem Purpur. Glatt und spiegelnd lag sie da. Verschwamm an ihren Rändern mit dem Abendhimmel. Keine Grenze, kein Oben und kein Unten, eine scheinbar unendliche, völlig schwerelose Weite. Einzig dort, wo die Sonne untergegangen war, zeigte ein letzter, orange glühender Strich noch an, wo man sich den Horizont hinzudenken hatte.
Ole Storm ließ sich zurücksinken. Der Sand der großen Düne auf Amrum war noch warm von der Hitze des Tages, aber im Osten zeigten sich bereits ein paar erste Sterne am Himmel. Nicht mehr lange und sie würden unten auf dem Strand den großen Holzstoß entzünden.
Es war Mittsommer. Überall auf den Inseln und auf den Deichen am Festland würden heute Nacht die Feuer brennen, und eigentlich hätte alles an diesem 22. Juni 1940 so sein sollen wie jedes Jahr.
Aber nichts war mehr wie sonst. Es war Krieg. Und der Krieg war allgegenwärtig.
Polen im Herbst. Dänemark und Norwegen im April. Dann in rascher Folge Holland, Belgien und nun sogar Frankreich. Erst vergangene Woche waren deutsche Truppen durch den Triumphbogen in Paris marschiert. Ole hatte die unglaublichen Bilder in der Wochenschau gesehen.
Alles war so schnell gegangen. Schwindelerregend schnell. Kein Wunder, dass sich die Leute an den Erfolgen der deutschen Kriegsmaschine berauschten. Manche waren sogar regelrecht besoffen davon. Selbst hier im ansonsten nicht gerade zur Hysterie neigenden Norden Frieslands.
»Wirst sehen, in drei Monaten ist alles vorbei!«, hatte selbst Nils gesagt und übermütig gegrinst. »Dann stehen wir am Trafalgar Square!«
Nils war Oles älterer Bruder.
In Statur und Aussehen ähnelte er – hoch aufgeschossen und strohblond – ihrem Vater, während sein sonniges, stets aufgeräumtes Naturell wohl eher von ihrer Mutter stammen musste. Mit Ole, der fünf Jahre jünger war, verhielt es sich genau anders herum. »Mutters dunkle Locken und Vaters dunkles Gemüt«, wie Nils ihn oft genug aufgezogen hatte.
Ole glaubte nicht an ein schnelles Ende des Krieges. Allzu leicht täuschten die schrillen Jubelmeldungen der militärischen Erfolge über den Preis hinweg, den man für all das zu zahlen hatte. Operation »Weserübung«, der handstreichartige Überfall, bei dem man binnen weniger Tage Dänemark und Norwegen überrollt hatte, war weitaus verlustreicher ausgefallen als geplant. Drei Freunde aus Oles Segelschulgruppe in Kiel, die sich sofort nach Kriegsausbruch freiwillig zur Marine gemeldet hatten, waren an Bord der »Blücher« gefallen, als diese im Oslofjord versenkt worden war. Auch in Belgien und Frankreich, so hörte man hinter vorgehaltener Hand, hatte es bittere Verluste gegeben. Und war nicht gerade erst Hamburg als Vergeltung von englischen Bombern in Schutt und Asche gelegt worden?
»Jetzt zieh nicht schon wieder so eine Fresse!«, sagte Nils und knuffte Ole aufmunternd in die Seite. »Oder willst du dir und mir den wohlverdienten Heimaturlaub vermiesen?«
Es war in der Tat sehr selten geworden, dass sie gemeinsam ein paar Tage zu Hause verbrachten.
»Außerdem«, fügte Nils verschwörerisch hinzu, »wenn Elsbeth dich so sieht, denkt die noch, du hast Schmerzen am Sack, weil du dir ’n Tripper mit nach Hause gebracht hast oder so was. Und dann lässt sie dich wieder nicht rein in ihr Walhalla!«
Ole schnitt
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