Die Farbe der See (German Edition)
seit sie Anholt verlassen hatten, viel zu wenig Schlaf bekommen hatte.
Er ließ sich hintenüber ins harte Gras sinken, das auf der Mauerkrone wuchs, und starrte in den endlosen blauen Himmel über sich.
Zwei Minuten später war er fest eingeschlafen.
*
Das Geräusch, das ihn weckte, war nicht besonders laut. Aber es hatte etwas Alarmierendes an sich, das Ole sofort auffahren ließ. Ein Zischen, gefolgt von einem entfernten, leisen Knall, das in seinem Unterbewusstsein irgendwie mit einer Notsituation verknüpft war. Und richtig, als er die Augen aufschlug, sah er den gekrümmten weißen Rauchschweif und das rote Leuchten einer über dem Meer niedergehenden Seenotrakete.
Inzwischen war es später Nachmittag geworden. Die Sonne stand bereits ein gutes Stück weiter im Westen, und Ole musste die Augen gegen das grelle Glitzern abschirmen, als er zum Meer hinunterblickte.
Im Gegenlicht sah er die Silhouette eines Schiffes, die ihm erschreckend bekannt vorkam. Vor allem die Aussparungen im Vorschiff, wo die Klappen der Torpedorohre saßen.
Das Schnellboot!
Mit einem Mal war Ole hellwach und auf den Beinen.
Dann entdeckte er, wer die Leuchtrakete abgeschossen hatte. Keine hundert Meter unter ihm auf den Klippen stand eine hochgewachsene Gestalt und schwenkte die Arme, die strubbeligen blonden Haare zerzaust vom Wind. Richard Korfmann!
Es gab keinen Zweifel daran, dass er der Schnellbootbesatzung mit der Leuchtrakete ein Zeichen gegeben hatte. Denn von dem Marineschiff hatte inzwischen ein Beiboot abgelegt, dessen Besatzung Richards Winken erwiderte.
Dein Freund Richard ist ein Verräter, schoss es Ole mit schmerzhafter Klarheit durch den Kopf.
Wie hatte er mit dem Schnellboot Kontakt aufnehmen können? Und woher hatte er gewusst, was das geheime Ziel des Konteradmirals gewesen war?
Noch während Ole sich die Frage stellte, wusste er bereits die Antwort: Du hast es ihm selber gesagt, du Idiot! Beim Auslaufen auf Anholt!
Schmerzhaft klar sah Ole die Situation vor sich, als er Marstrand erwähnte. Karl war auch dabei gewesen. Er hatte gelacht. Richard nicht.
Und dann? Dann war das Dingi abgetrieben. Nachdem Richard auffällig lange an dessen Schleppleine herumgefummelt hatte. Jetzt war klar, was da so lange gedauert hatte. Richard musste, während er sich über die Klampe beugte, eine hastige Nachricht in sein Notizbuch gekritzelt haben, das jeder der Kadetten stets bei sich zu tragen hatte, und es ins Beiboot geworfen haben. Dann hatte er es absichtlich losgelassen, damit es zurück an Land trieb. Und von Strasser gefunden wurde, der ja alles von der Mole aus beobachtet hatte!
Plötzlich sah Ole weitere Situationen. Die Nacht in der Ankerbucht, als jemand heimlich mit dem Beiboot an Land ruderte. Middelfart, als Strasser das Schiff durchsuchte. Richard war auch an Bord gewesen! Strasser, wie er Richard aufforderte, den Konteradmiral zu verhaften. Vermutlich hatten die beiden die ganze Zeit über gemeinsame Sache gemacht, um die Pläne des Konteradmirals zu durchkreuzen!
Diese gipfelten in dem geheimen Treffen, das vermutlich genau in diesem Moment an Bord der Yacht stattfand!
Natürlich! Die Besatzung des S-Bootes hatte hier draußen auf Richards Signal gewartet, um von Wellersdorff in flagranti zu erwischen!
Wie lange würde die Barkasse um die Insel herum brauchen? Vielleicht konnte er ihnen noch zuvorkommen und von Wellersdorff warnen? Er musste es zumindest versuchen!
In halsbrecherischem Tempo kletterte er von der Mauer, sprang die letzten zwei Meter ins hohe Gras und rannte, was Beine und Lunge hergaben, zurück zum Ort.
Als Ole die mächtige Festungsmauer schon fast umrundet hatte, hörte er plötzlich hinter sich den keuchenden Atem und die Schritte eines Verfolgers in vollem Lauf.
»Ole, warte!«
Richard! Er musste ihn gesehen haben, als er von der Mauer kletterte.
Im selben Augenblick, als Ole den Kopf drehte, um über die Schulter zu blicken, war Korfmann auch schon heran und riss ihn mit einem Hechtsprung zu Boden.
Unsanft schlug Ole mit dem Gesicht auf dem harten Boden auf. Von seinem Kinn her breitete sich ein stechender Schmerz aus. Doch der währte nur wenige Sekunden, dann gewann Oles Wut die Oberhand.
Mit einem Aufschrei rollte Ole herum.
»Verräter!«, schrie er und versuchte mit aller Gewalt, sich aus Richards Umklammerung zu befreien.
»Wenn einer ein Verräter ist, dann Wellersdorff!«, keuchte Richard.
Er wehrte die wütenden Schläge und Tritte, mit denen Ole ihn zu
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