Die Farbe der See (German Edition)
ruhiger. Nur noch wenige Menschen waren hier unterwegs, und von dem Festgetümmel war zum Glück kaum noch etwas zu hören. Erleichtert setzte sich Ole unter einen Baum am Ufer und blickte über den Sund.
Auf der anderen Seite standen einige kleinere Sommerhäuser auf dem flachen, felsigen Ufer. Jedes von ihnen hatte einen eigenen wackeligen Holzsteg. An einem von ihnen lag eine Segelyacht mittlerer Größe. Zehn oder zwölf Meter vielleicht.
Von Aufbau und Cockpit war nicht viel zu erkennen, da beides von einer unordentlich darübergezerrten Persenning verdeckt war. Der Bug war etwas voller und höher als bei den Yachten, die Ole von zu Hause kannte, was bei den hiesigen Wellengrößen jedoch sicher gerechtfertigt war. Das Heck war nicht langgezogen und elegant wie das der Lydia, sondern kurz und rund wie das eines Kanus oder Kutters mit einem hinten angehängten Ruder. Ansonsten zeigte sie jedoch durchaus gefällige Linien, und ihr hoher Mast versprach gute Segeleigenschaften.
Dennoch. Selbst aus dieser Entfernung und quer über den Sund herüber konnte Ole erkennen, dass sich die Yacht in einem erbärmlichen Zustand befand. Das Großsegel hing schlampig zusammengewurstelt auf dem Großbaum, vom Mast blätterte in großen Placken der schützende Klarlack, und eine Saling hing verbogen nach unten wie das halb abgerissene Ohr eines Straßenköters. An Deck und auf der Persenning klebte Möwenschiet, und der ehemals weiße Rumpf war in ein von Schmutzläufern durchzogenes Grau übergegangen. Zur Krönung des Ganzen prangten in den Rumpfplanken am Bug und mittschiffs mehrere tiefe Kratzer und Macken, die von diversen ungeschickten Anlegemanövern zeugten.
Wem immer dieses Schiff gehörte, er konnte nicht für zwei Pfennig segeln. Und kümmerte sich im wahrsten Sinne des Wortes einen Dreck darum.
Ole verzog das Gesicht.
Der traurige Anblick der Yacht machte ihm auf eine Art zu schaffen, die ihn mehr als verwirrte. War es die plötzliche bittersüße Erinnerung an sonnige Segelnachmittage auf der Kieler Förde, die in ihrer Unbeschwertheit scheinbar auf immer der Vergangenheit angehörten? An »seine« Lydia, Hülsmeyers wundervollen Seekreuzer, der eine ähnliche Größe gehabt hatte? Oder war es etwas anderes, nämlich dass er und diese halbwracke Yacht auf gewisse Weise dasselbe Schicksal teilten: müde und angeschlagen von einem strapaziösen Törn, vernachlässigt und unklar zurückgelassen von denjenigen, von denen sie sich eigentlich Zuwendung und Hilfe erhofft hatten?
Plötzlich musste Ole sich abwenden. Vielleicht war er einfach nur übermüdet. Vielleicht war alles, was er in den vergangenen Tagen gesehen und erlebt hatte, einfach zu viel gewesen.
Mit gesenktem Kopf schlich er sich eine der stillen, steilen Kopfsteinpflastergassen hinauf. Nur fort vom Wasser und dem traurigen Anblick der Yacht.
Wie er den Rest des Tages herumgebracht hatte, wusste Ole später nicht mehr. Ziellos war er über die felsige Insel gewandert, bis ihn seine Schritte irgendwann hinauf zu den mächtigen Mauern der Karlsstein-Festung gebracht hatten.
Auf deren Seeseite fand er einen halb eingestürzten, von Büschen und Brombeergestrüpp überwucherten Eckturm und kletterte in ihm zur Wehrmauer hinauf. Die Mauerkrone war breit und mit Gras und Flechten bewachsen. Und der Ausblick über die Schärenlandschaft rund um Marstrand war atemberaubend schön.
Im Licht der Mittagssonne, die inzwischen die letzten Wolken vertrieben hatte, war das Wasser im Süden und Südwesten eine einzige strahlend blaue Fläche, gesprenkelt von Hunderten kleinerer und größerer Felsinseln, deren glatt polierte Flanken in allen Farben zwischen Ocker und Kupfer glänzten. Im Osten zog sich, grün bewaldet und in zahlreichen Buchten und Kaps vor und zurück springend, die schwedische Festlandsküste dahin. Im Süden konnte man in einiger Entfernung wie auf einer Perlenschnur weitere größere, bewaldete Inseln ausmachen, die das Schärengewässer zur offenen See hin abgrenzten wie eine schützende Mauer. Plötzlich verstand er, warum die Schweden vom Schärengarten sprachen. Es war der steinerne Vorgarten ihres Festlandes.
Ole setzte sich mit den Beinen über den Rand der Mauer und ließ den grandiosen Anblick auf sich wirken. Zum ersten Mal an diesem Tag schien sein Verstand ein wenig zur Ruhe zu kommen, und das lästige Schwirren der Fragen in seinem Kopf verstummte. An ihre Stelle trat eine bleierne Müdigkeit, die ihn daran erinnerte, dass er,
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